The Project Gutenberg EBook of Waldwinkel, by Theodor Storm Copyright laws are changing all over the world. Be sure to check the copyright laws for your country before downloading or redistributing this or any other Project Gutenberg eBook. This header should be the first thing seen when viewing this Project Gutenberg file. Please do not remove it. Do not change or edit the header without written permission. Please read the "legal small print," and other information about the eBook and Project Gutenberg at the bottom of this file. Included is important information about your specific rights and restrictions in how the file may be used. 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This is the 8-bit version. This book content was graciously contributed by the Gutenberg Projekt-DE. That project is reachable at the web site http://gutenberg.spiegel.de/. Dieses Buch wurde uns freundlicherweise vom "Gutenberg Projekt-DE" zur Verfuegung gestellt. Das Projekt ist unter der Internet-Adresse http://gutenberg.spiegel.de/ erreichbar. WALDWINKEL von THEODOR STORM Novelle (1874) Ueber dem Dache des Rathauses, das zugleich die Wohnung des staedtischen Buergermeisters bildete, kreuzten die ersten Schwalben in der Fruehjahrssonne; auf der Vorstrasse standen die "Buergermeistersbuben" und suchten vergebens die Koenigin der Luft mit den Lehmkugeln ihres Pustrohrs zu erreichen. Drinnen aber in seinem Geschaefts- und Arbeitszimmer sass der Gestrenge selbst, der ausser dem genannten Amte auch das eines Gerichtsdieners und Polizeimeisters in seiner Person vereinigte, vertieft in ein dickes Aktenfaszikel, nicht achtend des heiteren Glanzes, der durch die Fenster zu ihm hereinstroemte. Da wurde draussen fluechtig an die Tuer gepocht, und auf das verdrossene "Herein!" des Beamten trat ein brauner stattlicher Mann ueber die Schwelle, der indes die erste Haelfte der Vierziger schon erreicht haben mochte. Der Buergermeister erhob das rote behagliche Gesicht aus seinen Akten, warf einen fluechtigen Blick auf den Eintretenden und sagte, als er die feinere Kleidung desselben bemerkt hatte, mit einer runden Handbewegung: "Wollen Sie gefaelligst Platz nehmen; ich werde gleich zu Ihren Diensten sein." Dann steckte er den Kopf wieder in die Akten. Der andere aber war einen Schritt naeher getreten. "Bist du jetzt immer so fleissig, Fritz?" sagte er. "Du littest ehemals nicht an dieser Krankheit." Der Buergermeister fuhr empor, hakte die Brille von der Nase und starrte den Sprecher aus seinen kleinen gutmuetigen Augen an. "Richard, du bist es!" rief er. "Mein Gott, wie gut du mich noch kennst! Und doch, mein Scheitel ist kahl und der Rest des Haares grau geworden! Ja, ja, ein solches Buergermeisteramt!" Die kleine beleibte Gestalt war hinter dem Aktentisch hervorgekommen. Voll Erstaunen blickte er in das Antlitz des ihn fast um Kopfeshoehe ueberragenden Freundes. "Das", sagte er und taetschelte mit seiner kurzen Hand ueber das noch glaenzend braune Haar desselben, "das ist natuerlich nur Peruecke; aber die Augen, diese unnatuerlich jungen Augen, das sind doch wohl noch die echten alten aus unseren lustigen Tagen!" Der Gast liess laechelnd diesen Strom des Geplauders ueber sich ergehen, waehrend der Buergermeister ihn neben sich aufs Sofa niederzog. "Und nun", fuhr der letztere fort, "wo kommst du her, was bist du, was treibst du?" "Ich, Fritz?" erwiderte scherzend der andere, "ich suche einen Inhalt fuer das noch immer leere Gefaess meines Lebens; oder vielmehr", fuegte er etwas ernster hinzu, "ich suche ihn nicht, ich leide nur ein wenig an dieser Leere." Der Buergermeister sah ihm treuherzig in die Augen. "Du, Richard?" sagte er, "der auf der Universitaet alle Fakultaeten abgeweidet hat! Will doch ein alter Kamerad unter einem gewissen Anonymus sogar deine Feder in einer botanischen Zeitschrift entdeckt haben!" "Wirklich, Fritz?--Er hat nicht fehlgesehen." Der kleine dicke Mann besann sich. "Du bist noch ledig?" fragte er. "Ja? Noch immer? Hm! Du warst ein Schwaermer, Richard! Weisst du noch, als wir Studenten auf der Dornburg tanzten? Du hattest derzeit die Braut zu Hause; du wolltest nicht tanzen; du sassest in der Ecke bei dem langen Wassermann, der wegen seiner grossen Stiefel nicht tanzen konnte, und trankst nur Wein, sehr viel Wein, Richard! Du wolltest die seligen Taenze nicht entweihen, die du daheim mit ihr getanzt hattest!" Der andere war ein wenig still geworden, waehrend der Buergermeister in ploetzlicher Unruhe seine goldene Uhr aus dem Abgrund seiner Tasche zog. "Sag mir, Liebster", begann er wieder, du schenkst mir doch den heutigen Tag?" "Ich muss am Nachmittag noch weiter." "Immer noch der alte Meister Unruh?" "Verzeih, die Extrapost ist schon bestellt! Ihr habt hier einige Meilen noerdlich zwischen Heidesumpf und Wald noch eine wenig abgesuchte Flora!" "Aha!" rief der Buergermeister, "bei Foehrenschwarzeck, wo die verrueckten Junker wohnen, die weder einen Baum faellen noch ein Stueck Heide aufbrechen wollen!" Der Gast nickte. "So sagte man mir. Es soll dort in heimlichen Gruenden noch allerlei sonst Verschwundenes zu finden sein." "Nun, Richard, da koenntest du dich ja im Narrenkasten einquartieren!" "Im Narrenkasten?" "Freilich! Der Vater der jetzigen Herren hatte noch seine Spezialtollheit! Da ihm sein Schloss zu gross wurde, so baute er sich hinaus zwischen Heide und Wald; ein Haeuslein, alle Fenster nach einer Seite und drum herum eine Ringmauer, zwanzig Fuss hoch! Und das Kastellchen nannte er den "Waldwinkel" die Leute aber nennen's noch heut den "Narrenkasten". Dort hat er mitten zwischen all dem Unkraut seine letzten Jahre abgelebt." Der andere hatte aufmerksam zugehoert. "Wer wohnt denn jetzt darin?" fragte er. "Jetzt? ich denke, niemand; oder doch nur Eulen und Iltisse."--Im Nebenzimmer schlug eine Uhr. Der Buergermeister war aufgesprungen. "Schon elf!" sagte er. "Weisst du, Alter! Ich habe noch einen gerichtlichen Aktus vor mir; du warst ja in der Verbindung unser Schriftwart", und schmunzelnd fuhr er fort: "da du so eilig bist, wir wuerden noch ein Plauderstuendchen mehr gewinnen, wenn du heute dieses Amt noch einmal im Dienste unserer hochnotpeinlichen Gerichtsbarkeit verrichten wolltest!" Richard lachte. "Hast du denn keinen Protokollfuehrer?" "Nein, Liebster; da ich die Wuerde und das Salarium eines Stadtsekretarius ebenfalls in meiner Person vereinige, so muss ich auch die Lasten dieses Amtes tragen, wenn nicht der Zufall einen so faehigen und gefaelligen Freund mir in das Haus bringt."--Einige Minuten spaeter sassen beide am gruenen Tisch in dem nebenan liegenden Gerichtszimmer. "Du wirst dich vielleicht noch des gelbhaarigen Theologen erinnern", sagte der Buergermeister, waehrend er sich mit behaglicher Wuerde in dem etwas erhoehten Praesidentensessel niederliess, "den wir seinerzeit wohl nicht mit Unrecht den Denunzianten nannten! Wir haben ihn seit Jahren hier am Ort; der Herr Magister betreibt ein eintraegliches Pensionat und steht bei Adel und Honoratioren in hohem Ansehen; man wollte ihn eben auch noch mit dem Gottesdienst an unserem Landeszuchthaus hier betrauen." "Was ist mit ihm?" fragte der improvisierte Aktuarius, der schon seine Feder geschnitzt und den gebrochenen Bogen vor sich hingelegt hatte. "Ich entsinne mich eigentlich nur seines abgetragenen Frackes und seiner grossen roten Haende." "Du wirst ihn gleich erscheinen sehen", sagte der Buergermeister, mit der einen Hand den ueber dem gruenen Tisch haengenden Glockenstrang erfassend; "er hatte die Vormundschaft ueber ein elternloses Maedchen; sie ist jahrelang in seinem Hause gewesen, und er hat sie teilweise mit durch seine Schule laufen lassen. Jetzt ist er eines versuchten Verbrechens gegen dieses Maedchen auf das klaeglichste verdaechtig; es handelt sich heut nur noch um eine Gegenueberstellung beider." Der Buergermeister zog die Klingel, und der eintretende Gefangenwaerter erhielt Befehl, den Magister vorzufuehren. Es war eine widerwaertige Erscheinung, die sich jetzt, an dem an der Tuer zurueckbleibenden Gefaengniswaerter vorbei, mit einem geschmeidigen Bueckling in das Zimmer hineinwand. "Sie brauchen nicht zu weit vorzutreten!" sagte der Buergermeister, und der Magister zuckte sogleich um einige Fussbreit wieder rueckwaerts; gleich darauf erhob er seinen platten Kopf mit dem wie angeklebten Gelbhaar gegen die Zimmerdecke und begann sich zu den schwersten Eiden fuer seine Unschuld zu erbieten. Ohne darauf zu achten, zog der Buergermeister aufs neue die Glocke, und "Franziska Fedders" trat herein. Es war die schmaechtige Gestalt eines eben aufgebluehten Maedchens; sie war nicht grade huebsch zu nennen; den Kopf mit den aufgesteckten dunkelblonden Flechten trug sie etwas vorgebeugt, der Mund war vielleicht zu voll, die Nase ein wenig zu scharf gerissen; und als sie jetzt ihre tiefliegenden grauen Augen aufschlug, murmelte der Aktuarius unwillkuerlich vor sich hin: "Scientes bonum et malum." Mit abgewandtem Kopf und mit Glut uebergossen, aber mit unverrueckter Sicherheit wiederholte sie jetzt die Hauptangaben ihrer frueheren Aussagen gegen ihren einstigen Vormund, waehrend dieser seine knochigen Haende rang und seufzende Beteuerungen ausstiess. Als sie geendet hatte, begann der Magister erst andeutungsweise, dann immer deutlicher, sie eines Verhaeltnisses mit seinem Gehuelfen zu beschuldigen; sie seien verschworen, ihn zu stuerzen, um dann selbst das eintraegliche Pensionat zu uebernehmen. Mit offenem Munde und vorgestrecktem Halse horchte das Maedchen diesen Beschuldigungen. Richard, der die Feder hingelegt hatte, glaubte zu sehen, wie von der Glut des Hasses ihre Augen dunkler wurden. Ploetzlich warf sie den Kopf empor. "Sie luegen, Sie!" rief sie, und wie eine scharfe Schneide fuhr es aus dieser jungen Stimme. Aber wie ueber sich selbst erschrocken, flogen ihre Blicke unstet und huelfesuchend umher, bis sie in den ernsten Maenneraugen haftenblieben, die so ruhig zu ihr hinueberblickten. Der Magister hatte beide Arme zum Himmel aufgereckt. "Sie! Du nennst mich Sie, Franziska! Du, die ich dich in der Liebe des Lammes--" Er brach in sentimentale Traenen aus; er hatte etwas vom winselnden Affen an sich. "Ich nenne Sie gar nicht mehr!" sagte Franziska ruhig, und ihre Augensterne ruhten noch immer in denen des ihr fremden Mannes, als habe sie hier einen Halt gefunden, den sie nicht mehr zu verlassen wage.--Ueber dessen Seele fuhr es wie ein Traum: das stille Haus am Waldesrand tauchte vor seinem innern Auge auf; ein einsamer Mann und ein verlassenes Maedchen wohnten dort. Sie waren nicht mehr einsam und verlassen; aber um sie her in der lauen Sommerluft war nur der schwimmende Duft der Kraeuter, das Rufen der Voegel und fernab aus der stillen Lichtung der unablaessige Gesang der Grillen.-Der Klang der Botenglocke schrillte durch das Zimmer. Als Richard aufblickte, sah er eben das Maedchen aus der Tuer verschwinden, der Magister wurde vom Gefaengniswaerter abgefuehrt.--"Ein gescheutes Rackerchen, diese Franziska", sagte der Buergermeister, indem er das sauber abgefasste Protokoll durch seine Namensunterschrift vollzog. "Schade, dass sie nichts in bonis hat; wir wissen nicht recht, wohin mit ihr; fuer den gewoehnlichen Maegdedienst hat sie zuviel, fuer eine hoehere Stellung zuwenig gelernt." Sein Gast war im Zimmer auf und ab gegangen. "Freilich, ein anziehendes Koepfchen!" sagte er; aber seine Worte klangen tonlos, als sei in der Tiefe die Seele noch mit anderem beschaeftigt. "Hm, Richard", fuhr der Buergermeister, seine Akten zusammenbindend, fort, "da stimmst du mit unserem Physikus, er meint--er hat mitunter solche Einfaelle--, die Augen seien ein halbes Dutzend Jahre aelter als das Maedchen selbst." "Und wer ist jetzt ihr Vormund, Fritz?" "Ihr Vormund?--Sie hat keinen Verwandten; wir hatten augenblicklich keinen andern, es ist der Schustermeister an der Hafenecke; seit Beginn der Untersuchung wohnt sie auch bei ihm."--Eine Stunde spaeter sah man den Gast des Buergermeisters aus einem kleinen Hause an der Hafenecke treten und durch eine gegenueberliegende Strasse aus der Stadt hinausschreiten. Draussen vor den letzten Haeusern hielt ein offener Wagen. Ein grosser loewengelber Hund, den der auf dem Kutschersitze nickende Postillion an der Leine hatte, riss sich los und sprang, freudewinselnd und mit der maechtigen Rute den Staub der Strasse peitschend, dem Kommenden entgegen. "Leo, mein Hund, bist du da? Ja, ich komme, ich komme schon!" Ein lebensfroher Ton klang aus diesen Worten, unter denen der Hund die Liebkosungen seines Herrn entgegennahm. Vor ihnen, im hellsten Sonnenscheine, breitete sich ein weites Tiefland aus, zu dem in Wellenlinien sich der Weg hinuntersenkte. Bald sass der Wanderer auf dem Wagen, und waehrend der Hund in grossen Saetzen nebenhersprang, rollte das Gefaehrt in den jungen Fruehling hinaus, der blauen Waldferne zu, die in kaum erkennbaren Zuegen den Horizont begrenzte. Oben in den Eichbaeumen, die vor dem Kruge des Dorfes Foehrenschwarzeck standen, laermten die Elstern, welche ihr Nest gegen zwei rotbrustige Turmfalken zu verteidigen suchten; die Gaeste in der Schenkstube konnten kaum ihr eigenes Wort verstehen. "Weiss der Henker!" rief der Kraemer aus dem Nachbarstaedtchen, der eben mit dem gegenuebersitzenden Wirte sein Quartalgeschaeft gemacht hatte, "was Euch hier alles fuer Raubzeug um die Ohren fliegt! Duerfen auch die Falken nicht geschossen werden, Inspekter?" Der alte graubaertige Mann in brauner Joppe, an den diese Worte gerichtet waren, nahm mit der kleinen Messingzange eine Kohle aus dem auf dem Tische stehenden Becken, legte sie auf seine eben gestopfte kurze Pfeife und sagte dann, waehrend er inmittelst die ersten Dampfwolken stossweise ueber den Tisch blies: "Ich weiss nicht, Pfeffers, ich bin nicht fuer die Falken; da muesst Ihr den neuen Foerster fragen." Er schien, obschon es noch in der Morgenfruehe war, schon weit im Feld umher gewesen und nur zu kurzer Rast hier eingekehrt zu sein; denn die hellen Schweissperlen standen noch auf seiner Stirn, und seinen Strohhut hatte er vor sich auf dem Schosse liegen. "Ein neuer Foerster?" fragte der Kraemer. "Wo habt Ihr den denn herbekommen?" "Weiss nicht genau", erwiderte der Alte; "da droben aus dem Reich, mein ich; aber schiessen kann er wie gehext, und auf die Dirnen ist er wie der Teufel!" "Oho, Kasper-Ohm! Da nehmt Eure Ann-Margreth in Obacht!" "Wird sich schon von selber wehren, Pfeffers", meinte der Wirt. Aber der Kraemer hatte noch mehr zu fragen. "Hm, Inspekter!" sagte er, "Ihr bekommt ja allerlei Neues in Eueren Wald; Euere Herren muessen auf einmal ganz umgaengliche Leute geworden sein! Habt Ihr denn wirklich den alten "Narrenkasten" an einen Fremden, an einen ganz landfremden Mann vermietet?" "Diesmal trefft Ihr ins Schwarze, Pfeffers", sagte der Alte, indem er einen ungeheueren, roh gearbeiteten Schluessel aus der Seitentasche seiner Joppe hervorzog "ein paar Wagen mit Ingut sind schon gestern aus- und eingepackt worden; hab des Teufels Arbeit damit gehabt und muss auch jetzt wieder hin, um Fenster aufzusperren und nach dem Rechten zu sehen; meinen Phylax hab ich gestern abend hinter die hohe Hofmauer gesperrt, damit doch eine vernuenftige Kreaturseele bei all den Siebensachen ueber Nacht bliebe." "Und woher ist dieser Mietsmann denn gekommen?" fragte der Kraemer wieder. "Weiss nicht, Pfeffers; kuemmert mich auch nicht", erwiderte der Alte, "kann's selbst nicht kleinkriegen. Aber der Herr soll ein Botanikus sein; dergleichen Schlages liebt ja auch alles, was wild zusammenwaechst." Der Wirt, der inzwischen seine mit Kreide auf die Tischplatte geschriebene Abrechnung mit dem Kraemer noch einmal revidiert hatte, beugte sich jetzt vor und sagte, seine Stimme zu vertrautem Fluestern daempfend, obgleich niemand ausser den dreien im Zimmer war: "Wisst Ihr noch, vor Jahren, als in den Blaettern soviel von der grossen Studentenverschwoerung geschrieben wurde, als sie die Koenige all vom Leben bringen wollten--da soll er mit dabeigewesen sein!" Der Kraemer liess einen langgezogenen Pfiff ertoenen. "Da liegt's, Inspekter!" sagte er. "Ich weiss, Ihr hoert's nicht gern; aber die Junker, wenn sie jung sind, haben schon mitunter solche Mucken; Euer Junker Wolf ist ja derzumalen auch bei dem Wartburgstanze mit gewesen." Der Alte sagte nichts darauf; aber der Wirt wusste noch Weiteres zu erzaehlen, als wenn seine klugen Elstern ihm's von allen Seiten zugetragen haetten.--Hier aus der Gegend sollte der Fremde sein; aber drueben bei den Preussen hatte man ihn jahrelang in einem dunkeln Kerkerloch gehalten; weder die Sonne noch die Sterne der Nacht hatte er dort gesehen; nur der qualmige Schein einer Tranlampe war ihm vergoennt gewesen; dabei hatte er ohne Kunde, ob Morgen oder Mitternacht, tagaus, tagein gesessen und viele dicke Buecher durchstudiert. "Aber Kasper-Ohm", sagte der Kraemer und hielt dem Wirte seine offene Tabaksdose hin, "Ihr seid doch nicht etwa wieder in einen Grenzprozess verzwirnet?" "Ich? Wie meint Ihr das, Pfeffers?" "Nun, ich dachte, Ihr waert wieder einmal in der Stadt bei dem Winkeladvokaten, dem Aktuariatsschreiber, gewesen, bei dem man fuer die Kosten die Luegen scheffelweis draufzubekommt." Kasper-Ohm nahm die dargebotene Prise. "Ja, ja, Pfeffers", sagte er, einen Blick durchs Fenster werfend, "wenn sie einen nicht in Frieden leben lassen! Hoert einmal, wie die armen Heisters schreien!" "Freilich, Kasper-Ohm. Aber wie ging's denn weiter mit dem Herrn Botanikus?" "Mit dem?--Nun, glaubt es oder nicht! Eines Tages ist er ploetzlich zu Hause angekommen; aber es ist fuer ihn doch immer noch zu frueh gewesen; denn als er mit seinen blinden Augen ueber die Strasse stolpert, wird er von einer Karriole zu Boden gefahren, die eben lustig ueber das Pflaster rasselt." "Das verdammte Gejage!" rief der Kraemer. "Ja, ja, Pfeffers; Ihr kennt das nicht, Ihr seid ein lediger Mensch; aber der Herr und die feine Dame, die darin sassen, konnten nicht zwischen die Pferdeohren hindurchsehen; sie hatten zuviel an ihren eigenen Augen zu beobachten." "Und hatte er Schaden genommen, der arme Herr?" "Nein, Pfeffers, nein, das nicht! Aber es ist seine eigene Frau gewesen, die Dame, die mit dem Baron in der Karriole sass." Der Kraemer liess wieder seinen langen Pfiff ertoenen. "Das ist 'ne Sache; so ist er verheiratet gewesen, als die Preussen ihn gefangen haben! Nun, die Frau wird er wohl nicht mit sich bringen!" "Sollte man nicht glauben", meinte Kasper-Ohm; "denn er soll sich's noch einen meilenlangen Prozess haben kosten lassen, um nur den Kopf aus diesem Eheknoten freizukriegen." "Und der Baron, was ist mit dem geworden?" "Den Baron, Pfeffers? Den hat er togeschossen, und dann ist er in die weite Welt gegangen, um sich all den Verdruss an den Fuessen wieder abzulaufen. Nein, Freundchen, die feine Dame wird er wohl nicht mit herbringen, aber die alte taube Wieb Lewerenz aus Euerer Stadt, und das ist auch eine gute Frau. Sie hat ihren Dienst als Waisenmutter quittiert und kommt nun auf ihre alten Tage in den Narrenkasten." Der Inspektor war inzwischen aufgestanden.--"Schwatzt Ihr und der Teufel!" sagte er, indem er lachend auf die beiden andern herabsah; dann trank er sein Glas aus und schritt, den schweren Schluessel in der Hand, zur Tuer hinaus.--Unter dem Eichbaum durch, auf welchem der Falke von dem indes eroberten Neste auf ihn herabsah, ging er aus dem Gehoefte auf den Weg hinaus, welcher hier, vom Nordende des Dorfes, zwischen dicht mit Haselnussbaeumen bewachsenen Waellen auf die Hauptlandstrasse hinausfuehrte. Schon auf der Mitte desselben aber bog er durch eine Luecke des Walles nach links in einen Fussweg ein; in der schon drueckenden Sonne schritt er auf diesem ueber einige gruene, wellenfoermig sich erhebende Saatfelder einer mit Eichenbusch besetzten Moorstrecke zu, hinter welcher in breitem Zuge und noch in dem blaeulichen Duft des Morgens ein aus Eichen und stattlichen Buchen gemischter Laubwald seine weichen Linien gegen den blauen Himmel abzeichnete. Der Alte trocknete mit seinem Tuch den Schweiss sich von der Stirn, als er endlich in diese kuehlen Schatten eintrat; ueber ihm aus einer hohen Baumkrone schmetterte eine Singdrossel ihren Gesang ins weite Land hinaus. Ein Viertelstuendchen mochte er so gewandert sein, und der ihn umgebende Laubwald hatte inzwischen einem Tannenforste Platz gemacht, als sich, aus einem Seitensteige kommend, zwei andere Wanderer zu ihm gesellten. "Geht's denn recht hier nach dem Narrenkasten?" Ein Bauerbursche fragte es, der einem zwar einfach, aber staedtisch gekleideten Maedchen ihren Koffer nachtrug. Der Alte nickte. "Ihr koennt nur mit mir gehen." "Aber ich will zum Waldwinkel", sagte das Maedchen. "Wird wohl auf eins hinauslaufen. Wenn Sie im Waldwinkel was zu bestellen haben, so ist's schon richtig hier." "Ich gehoere dort zum Hause", erwiderte sie. Der Alte, der bisher seinen Weg ruhig fortgesetzt hatte, wandte sich nach ihr zurueck, und seine Augen blickten immer munterer, waehrend er sich das junge Wesen ansah. "Nun", sagte er, "die Frau Lewerenz haette ich mir, so zu verstehen, um ein paar Jaehrchen aelter vorgestellt." Aber das Maedchen schien fuer solche Spaesse wenig eingenommen. Sie sah ihn mit ihren grauen Augen an und sagte: "Ich heisse Franziska Fedders. Die Frau Lewerenz wird wohl mit dem Herrn schon dort sein." "Da irren Sie denn doch, Mamsellchen", meinte der Alte, indem er mit der einen Hand vor ihr den Hut zog und mit der andern ihr den grossen Schluessel zeigte; "die Herrschaft kommt erst heute abend; aber Einlass sollen Sie drum doch schon bekommen." Sie stutzte; aber nur einen Augenblick ruhte der Zeigefinger an der Lippe. "Es ist gut", sagte sie, "es passte nicht anders mit dem Fuhrmann; lassen Sie uns gehen, Herr Inspektor!" Und so wanderten sie auf dem schattigen, mit trockenen Tannennadeln bestreuten Steige miteinander fort; immer riesiger wurden die Foehren, die zu beiden Seiten aufstiegen und ihre Zweige ueber sie hinstreckten. Ploetzlich oeffnete sich das Dickicht; eine mit Wiesenkraeutern bewachsene, muldenartige Vertiefung, gleich dem Bette eines verlassenen Flusses, zog sich quer zu ihren Fuessen hin, waehrend jenseits auf der Hoehe wiederum ein Eichen- und Buchenwald seine Laubmassen ausbreitete. Nur ihnen gegenueber zeigte sich eine Luecke, durch welche man bis zum Horizont auf ein braunes Heideland hinausblickte. Zur Linken dieser Durchsicht aber, mit der andern Seite sich hart an den Wald hinandraengend, ragte ein altes Backsteingebaeude, das durch sein hohes Dach ein fast turmartiges Aussehen erhielt; eine Mauer, ueber welcher nur die vier Fenster des oberen Stockwerks sichtbar waren, trat, von den beiden Ecken der Front auslaufend, in ovaler Rundung fast an den Rand der Wiesenmulde hinaus. Der Alte, der waehrend des Gehens Franziska von seinen Einzugsmuehen unterhalten hatte, war stehengeblieben und wies schweigend nach dem mit schwerem Metallbeschlag bedeckten Tore, das sich gegenueber in der Mitte der Mauer zeigte. Oberhalb desselben in einer Sandsteinverzierung befand sich eine Inschrift, deren einst vergoldete Buchstaben bei dem scharfen Sonnenlichte auch aus der Ferne noch erkennbar waren. "Waldwinkel" buchstabierte Franziska. "Oho, Phylax!" rief der Inspektor. "Hoeren Sie ihn, Mamsellchen; er hat schon meinen Schritt erkannt!" Aus dem verschlossenen Hofe drueben hatte sich das Bellen eines Hundes hoeren lassen; zugleich erhob sich von einem Eichenaste, der aus dem Walde auf das Dach hinueberlangte, ein grosser Raubvogel und kreiste jetzt, seinen wilden Schrei ausstossend, hoch ueber dem einsamen Bauwerk. Sie waren indes auf der kaum noch sichtbaren Fortsetzung des Waldsteiges in die Wiesenmulde hinabgegangen. Die nach Sueden gelegene Frontseite des immer naeher vor ihnen aufsteigenden Gebaeudes war von der Sonne hell beleuchtet, sogar an den Drachenkoepfen der Wasserrinnen, welche unterhalb des Daches gegen den Wald hinausragten, sah man die Reste einstiger Vergoldung schimmern. Von den beiden Wetterfahnen, mit welchen an den Endpunkten die kurze First des Daches geziert war, hatte die eine sich fast ganz im gruenen Laub versteckt, waehrend die andere sich regungslos am blauen Himmel abzeichnete. Und jetzt war das jenseitige Ufer erstiegen, und der Inspektor hatte den Schluessel in dem Bohlentore umgedreht. Ein schattiger, mit Steinplatten ausgelegter Hof empfing sie, waehrend der Pudel mit Freudenspruengen an seinem Herrn emporstrebte.--Zur Linken des Eingangs war ein steinerner Brunnen, neben dem ein augenscheinlich neu angefertigter, mit Wasser gefuellter Eimer stand; an der Mauer des Hauses, an welcher eben der Sonnenschein hinabrueckte, wucherten hohe, mit Knospen uebersaete Rosenbuesche; die zu beiden Seiten der Haustuer auf den Hof gehenden Fenster wurden fast davon bedeckt. "Der alte Herr", sagte der Inspektor, "hat sie selber noch gepflanzt." Dann traten sie ueber ein paar Stufen in das Haus.--Zur Linken des Flurs lag die Kueche; zur Rechten ein einfenstriges Zimmer, dessen Ausruestung schon die kuenftige Bewohnerin erkennen liess. Zwar das hohe Bettgeruest dort entbehrte noch des Umhanges wie des schwellenden Inhalts; aber in der Ecke standen Spinnrad und Haspel, und ueber der altfraenkischen Kommode hing ein desgleichen Spiegelchen, hinter welchem nur noch die kreuzweis aufgesteckten Pfauenfedern fehlten. "Also, das ist nicht Ihr Zimmer, Mamsellchen!" sagte der Alte, noch einmal einen Scherz versuchend. Als er keine Antwort erhielt, deutete er auf seinen Pudel, der lustig die zum oberen Stockwerk fuehrende Treppe hinaufsprang. "Folgen wir ihm!" sagte er, "dort hinten sind nur noch die Vorratskammern." Oben angekommen, schloss er die Tuer zu einem maessig grossen Zimmer auf, das bis auf die Vorhaenge voellig eingerichtet schien. Die beiden Fenster, mit denen es ueber die Wiesenmulde auf den Tannenwald hinaussah, waren die mittleren von den vieren, welche sie von drueben aus erblickt hatten. Vor dem zur Linken stand ein weichgepolsterter Ohrenlehnstuhl, an der Seitenwand des andern ein Schreibtisch mit vielen Faechern und Schiebladen; neben diesem, bereits im Tick-tack ihren Pendel schwingend, hing eine kleine Kuckucksuhr, wie sie so zierlich weit droben im Schwarzwalde verfertigt werden. Eine altmodische, aber noch wohlerhaltene Tapete, mit rot und violett bluehendem Mohn auf dunkelbraunem Grund, bekleidete die Waende. Schweigend, aber aufmerksam betrachtete Franziska alles, waehrend sie dem Alten die Fensterfluegel oeffnen half. Zu jeder Seite dieses Blumenzimmers, und durch eine Tuer damit verbunden, lag ein schmaleres; beide nur mit einem Fenster auf den Tannenwald hinausgehend. In dem zur Linken befanden sich ausser einigen Stuehlen nur noch ein eisernes Feldbett und ein paar hohe Reisekoffer. Franziska warf nur einen fluechtigen Blick hinein, waehrend ihr Fuehrer schon die Tuer des gegenueberliegenden geoeffnet hatte, "Und nun gibt's was zu lesen!" rief dieser. "Der Herr Doktor ist selbst hier aussen gewesen und hat einen ganzen Tag da drin gesessen." Und wirklich, es war eine stattliche Hausbibliothek, die hier in sauberem Einband auf offenen Regalen an den Waenden aufgestellt war. Aber waehrend das Maedchen einen Band von Okens "Isis" herauszog, der ihr aus des Magisters Pensionat bekannt war, hatte der Alte dem Fenster gegenueber schon eine weitere Tuer erschlossen. Das Zimmer, in welches sie hineinfuehrte, lag gegen Westen und im Gegensatz zu den sonnigen Raeumen der Vorderseite noch in der Schattendaemmerung des unmittelbar daran grenzenden Waldes. "Sie muessen nicht erschrecken, Mamsellchen", sagte der Alte, indem er auf ein Eisengitter zeigte, womit das einzige Fenster nach aussen hin versehen war. "Es ist kein Gefaengnis, sondern auch nur so eine Liebhaberei vom alten Herrn gewesen." "Ich erschrecke nicht so leicht", sagte das Maedchen, indem sie, ihm nach, ueber die Schwelle trat. "Nun, so wollen wir den Burschen Ihr Gepaeck heraufbringen lassen; denn dort das Bettchen und das Jungfernspiegelchen hier auf der Kommode werden doch wohl fuer Sie dahin beordert sein." Als Franziska ihre Sachen in Empfang genommen und den Burschen abgelohnt hatte, meinte der Alte: "Und jetzt, Mamsellchen, werd ich Sie ins Dorf zurueckbegleiten; es ist zwar ein Stuendchen Wandern, aber einen guten Eierkuchen wird Ihnen Kaspers Margret schon zu Mittag backen, und gegen Abend wird der Herr Doktor dort zu Wagen einkehren, um von mir den Schluessel in Empfang zu nehmen." Allein das Maedchen schuettelte den Kopf. "Ich bin nun einmal hier; zu essen hab ich noch in meiner Reisetasche." Der Alte rieb sich das baertige Kinn mit seiner Hand. "Aber ich werde Sie einschliessen muessen; ich muss dem Herrn Doktor selbst den Schluessel ueberliefern." "Schliessen Sie nur, Herr Inspektor!" "Hm!--Soll ich Ihnen auch den Phylax hierlassen?" "Den Phylax? Weshalb das? Da koennt's am Ende doch noch auf eine Hungersnot hinauslaufen." "Nun, nun; ich dachte nur; er ist so unterhaltsam." "Aber ich habe keine Langeweile." "Ja, ja; Sie haben recht." "Also, Herr Inspektor!" "Also, Mamsellchen, soll ich schliessen?" Sie nickte ernsthaft; dann, ruhig hinter ihm herschreitend, begleitete sie den Alten auf den Hof hinab. Als dieser aus der Ringmauer hinausgetreten und das schwere Tor hinter ihr abgeschlossen war, flog sie behende in das Haus zurueck. Mit dem Kopf an den Fensterbalken lehnend, blickte sie droben vom Wohnzimmer aus dem Fortgehenden nach, der eben durch die Kraeuter an der jenseitigen Hoehe emporschritt. Als er nebst seinem Hunde drueben zwischen den Foehren verschwunden war, trat sie in die Mitte des Zimmers zurueck; sie erhob ihre kleine Gestalt auf den Zehen, atmete tief auf, und langsam um sich blickend, drueckte sie beide Haende auf ihr Herz. Ein zufriedenes Laecheln flog ueber das in diesem Augenblicke besonders scharf gezeichnete Gesichtchen. Gleich darauf ging sie durch die Bibliothek in ihre Kammer, wohin nun auch der Sonnenschein den Weg gefunden hatte. Vor den Spiegel tretend, loeste sie ihre schweren Flechten, dass das dunkelblonde Haar wie Wellen an ihr herabflutete. So kniete sie vor ihren Koffer hin, kramte zwischen ihren Habseligkeiten und raeumte sie in die leeren Schubladen der Kommode. Ein Kaestchen mit Saftfarben, Pinseln und Zeichenstiften, einige Blaetter mit nicht ungeschickten Blumenmalereien waren dabei auch zum Vorschein gekommen. Als alles geordnet war, flocht sie sich das Haar aufs neue und kleidete sich dann so zierlich, als der mitgebrachte Vorrat es nur gestatten wollte. Wie beilaeufig hatte sie inzwischen ein paar Butterbroetchen aus ihrer Reisetasche verzehrt; jetzt, als muesse sie innerhalb dieser Mauern jedes Fleckchen kennenlernen, schluepfte sie auf leichten Fuessen noch einmal durch das ganze Haus; durch alle Zimmer, in die Kueche, in den von dort hinabfuehrenden Keller; dann stieg sie auf einer bald von ihr erspaehten Treppe auf den Hausboden, ueber welchem hoch und duester sich das Dach erhob. Es huschte etwas an ihr vorbei, es mochte ein Iltis oder ein Marder gewesen sein; sie achtete nicht darauf, sondern tappte sich nach einer der insgesamt geschlossenen Luken und ruettelte daran, bis sie aufflog. Es war die Hinterseite des Daches, und unter ihr unabsehbar dehnte sich die Heide aus, immer breiter aus dem Walde herauswachsend. Hier in dem dunkeln Rahmen der Dachoeffnung kauerte sie sich nieder; nur ihre grauen Falkenaugen schweiften lebhaft hin und her, bald zur Seite ueber die in der Mittagsglut wie schlummernd ruhenden Waelder, bald hinab auf die kargen Raederspuren, welche ueber die Heide zu der soeben von ihr verlassenen Welt hinausliefen. -------------------------- In der Zeit, die hierauf folgte, erfuhr das Wild in der Umgebung des "Narrenkastens" eine ihm dort ganz ungewohnte Beunruhigung in der Stille seines Sommerlebens. Aus den Kraeutern der jungen Tannenschonung springt ploetzlich der Hirsch empor und stuermt, nicht achtend seines knospenden Geweihes, in das nahe Waldesdickicht; draussen im Moorgrund fliegen zwei stahlblaue Birkhaehne glucksend in die Hoehe, die seit Jahren hier unbehelligt ihre Taenze auffuehren durften; selbst Meister Reineke bleibt nicht ungestoert. In einem alten Riesenhuegel hat er sein Malepartus aufgeschlagen und sitzt jetzt in der warmen Mittagssonne vor einem seiner Ausgaenge, bald behaglich nach den ueber der Heide spielenden Muecken blinzelnd, bald auf seine jungen Fuechslein schauend, die um ihn her ihre ersten Purzelbaeume versuchen. Da ploetzlich streckt er den Kopf und bewegt horchend seine spitzen Ohren; drueben, vom Saum des Buchenwaldes, hat die Luft einen ungehoerigen Laut ihm zugetragen. Einige Minuten spaeter schreitet ein nicht mehr junger, aber kraeftiger Mann ueber die Heide; ein grosser, loewengelber Hund springt ihm voraus und steckt die Schnauze in den Eingang des Huenengrabes, durch welchen kurz vorher der Fuchs und seine Brut verschwunden sind; doch sein Herr ruft ihn zurueck, und er gehorcht ihm augenblicklich. Sie kommen eben aus dem Walde; jetzt schreiten sie weiter ueber die Heide; bald werden sie zusammen dort den Sumpf durchwaten. Sie sind unzertrennlich, sie tun das alle Tage; aber die Tiere brauchen sich vor ihnen nicht zu fuerchten; denn der Hund hat nur Augen fuer seinen Herrn und dieser nur fuer die stille Welt der Pflanzen, welche, einmal aufgefunden, seiner Hand nicht mehr entfliehen koennen; heute sind es besonders die Moose und einige Zwergbildungen des Binsengeschlechts; die er unbarmherzig in seine gruene Kapsel sperrt. Mitunter geht auch ein Maedchen an seiner Seite; doch dies geschieht nur selten und bei kuerzeren Wanderungen. Meistens ist sie drueben an der Wiesenmulde, hinter den hohen Mauern des "Waldwinkels"; dort geht sie in Kuech und Keller einer alten Frau zur Hand, deren gutmuetiges Gesicht schon durch die Einfoermigkeit seines Ausdrucks eine langjaehrige Taubheit verraten wuerde, wenn dies nicht noch deutlicher durch ein Hoehrrohr geschaehe, das sie wie ein Jaegerhoernchen am Bande ueber der Schulter traegt. Das Maedchen weiss, dass die Alte einst die Waerterin ihres jetzigen Herrn gewesen ist; sie zeigt sich ihr ueberall gefaellig und sucht ihr alles an den Augen abzusehen.--Anders steht sie mit dem Herrn selber; er hat keinen Blick wieder von ihr erhalten wie damals in der Gerichtsstube, als er der Aktuar des Buergermeisters war, so ungeduldig er auch oft darauf zu warten scheint. Zuweilen, wenn sie nach dem Mittagstische die Zimmer oben geordnet hat, was stets mit puenktlicher Sauberkeit geschieht, sitzt sie auch wohl am Fenster des kleinen Bibliothekszimmers und malt auf braeunliche Papierblaettchen eine Rispe oder einen Bluetenstengel, den der Doktor allein oder sie mit ihm aus der Wildnis draussen heimgebracht hat. Dieser selbst steht dann oft lange neben ihr und blickt schweigend und wie verzaubert auf die kleine, regsame Hand. So war es auch eines Nachmittags, da schon manche Woche ihres Zusammenlebens hingeflossen war. Er hatte einen Strauss aus Wollgras und gesterntem Baerenlauch vor ihr zurechtgelegt, und sie war emsig beschaeftigt, ihn aufs Papier zu bringen. Mitunter hatte er ein kurzes Wort zu ihr gesprochen, und sie hatte ebenso und ohne aufzublicken ihm geantwortet. "Aber sind Sie denn auch gern hierhergekommen?" fragte er jetzt. "Gewiss! Weshalb denn nicht? Bei dem Schuster roch das ganze Haus nach Leder; und Bettelleute waren es auch." "Bettelleute?--Weshalb sprechen Sie so hart. Franziska?"--Es schien, als wenn er ihr zu zuernen suche; aber er vermochte es schon laengst nicht mehr. Eine Weile liess er seine Augen auf ihr ruhen, waehrend sie eifrig an einem Blaettchen fortschattierte; als keine Antwort erfolgte, sagte er: "Ich bin kein Bettelmann, aber einsam ist es hier fuer Sie." "Das hab ich gern", erwiderte sie leise und tauchte wieder den Pinsel in die Farbe. Neben ihr auf dem Tische lagen mehrere fertige Blaettchen; er nahm eines derselben, auf dem eine Bluete der Cornus suecica gemalt war, und schrieb mit Bleistift darunter: Eine andre Blume hatt ich gesucht-- Ich konnte sie nimmer finden; Nur da, wo zwei beisammen sind, Taucht sie empor aus den Gruenden. Er hatte das so beschriebene Blatt vor sie hingelegt; aber sie warf nur einen raschen Blick darauf und schob es dann, ohne aufzusehen, wieder unter die andern Blaetter, indem sie sich tief auf ihre Zeichnung bueckte. Noch eine Weile stand er neben ihr, als koenne er nicht fort; da sie aber schweigend in ihrer Arbeit fortfuhr, so pfiff er seinem Hunde und schritt mit diesem in den Wald hinaus. -------------------------- Es war ihm seltsam ergangen mit dem Maedchen. In augenblicklicher Laune, fast gedankenlos, hatte er sie in den Kreis seines Lebens hineingezogen; eine Zutat nur, eine Bereicherung fuer die einfoermigen Tage hatte sie ihm sein sollen;--und wie anders war es nun geworden! Freilich, die alte Frau Wieb, fuer die trotz ihrer Taubheit die Welt kein stoerendes Geheimnis barg, vermochte es nicht zu sehen; aber selbst der loewengelbe Hund sah es, dass sein Herr in den Bann dieses fremden Kindes geraten, dass er ihr ganz verfallen sei; denn mehr wie je draengte er sich an ihn und blickte ihn mit fast vorwurfsvollen Augen an. Lange waren sie zweck- und ziellos miteinander umhergestreift; jetzt, da schon die Daemmerung in den Wald herabsank, lagerten Herr und Hund unweit des Fusssteiges unter einem grossen Eichenbaum, in dem um diese Zeit die Nebelkraehen sich zu versammeln pflegten, bevor sie zu ihren noch abgelegeneren Schlafplaetzen flogen. Der Doktor hatte den Kopf gegen einen moosbewachsenen Granitblock gelehnt, auf dem Franziska sich einige Male ausgeruht, wenn sie mit ihm von einem Ausfluge hier vorbeigekommen war. Seine Augen blickten in das Geaest des Baumes ueber ihm, wo Vogel um Vogel niederrauschte, wo sie durcheinanderhuepften und kraechzten, als haetten sie die Chronik des Tages miteinander festzustellen; aber die schwarzgrauen Gesellen kuemmerten ihn im Grunde wenig; durch seine Phantasie ging der leichte Tritt eines Maedchens, desselben, deren muede Fuesschen noch vor kurzem an diesem Stein herabgehangen hatten, gegen den er jetzt seinen gruebelnden Kopf drueckte. Was hatte eine Betoerung ueber ihn gebracht, wie er sie nie im Leben noch empfunden hatte?--Alles andere, was er ein halbes Leben lang wie ein unertraegliches Leid mit sich umhergeschleppt, es war wie ausgeloescht, er begriff es fast nicht mehr. War es nur der Taumel, nach einem letzten Jugendglueck zu greifen? Oder war es das Geheimnis jener jungen Augen, die mitunter ploetzlich in jaehe Abgruende hinabzublicken schienen?--So manches hatte er an ihr bemerkt, das seinem Wesen widersprach; es blitzten Haerten auf, die ihn empoerten, es war eine Selbstaendigkeit in ihr, die fast verachtend jede Stuetze abwies. Aber auch das liess ihm keine Ruhe; es war ein Feindseliges, das ihn zum Kampf zu fordern schien, ja von dem er zu ahnen glaubte, es werde, wenn er es bezwungen haette, mit desto heisseren Liebeskraeften ihn umfangen. Er war aufgesprungen; er streckte die Arme mit geballten Faeusten in die leere Luft, als muesse er seine Sehnen pruefen, um sogleich auf Leben und Tod den Kampf mit der geliebten Feindin zu bestehen. Ueber ihm in der Eiche rauschten noch immer die Voegel durcheinander; da schlug der Hund an, und die ganze Schar erhob sich mit lautem Kraechzen in die Luft. Aber aus dem Walde hoerte er ein anderes Geraeusch; kleine leichte Schritte waren es, die eilig naeher kamen, und bald gewahrte er zwischen den Baumstaemmen das Flattern eines Frauenkleides. Er drueckte die Faust gegen seine Brust, als koennte er das rasende Klopfen seines Blutes damit zurueckdraengen. Atemlos stand sie vor ihm. "Franziska!" rief er. "Wie blass Sie aussehen!" "Ich bin gelaufen", sagte sie, "ich habe Sie gesucht." "Mich, Franziska? Es wird schon dunkel hier im Walde." Sie mochte die Antwort, nach der ihn duerstete, in seinem Antlitz lesen; aber sie sagte einfach--und es war der Ton der Dienerin, welche ihrem Herrn eine Bestellung ausrichtet: "Es ist jemand da, der Sie zu sprechen wuenscht." "Der mich zu sprechen wuenscht, Franziska?" Sie nickte. "Es ist der Vormund, der Schuster", sagte sie beklommen, als fuehle sie das Pech an ihren Fingern. "Ihr Vormund! Was kann der von mir wollen?" "Ich weiss es nicht; aber ich habe Angst vor ihm." "So kommen Sie, Franziska!" Und rasch schritten sie den Weg zurueck.--Es war ein untersetztes Maennlein mit wenig intelligentem, stumpfnasigem Antlitz, das in dem Stuebchen der Frau Lewerenz auf sie gewartet hatte. Richard fuehrte ihn nach dem Wohnzimmer hinauf, wohin Franziska schon vorangegangen war. "Nun, Meister, was wuenschen Sie von mir?" sagte er, indem er sich auf den Sessel vor seinem Schreibtisch niederliess. Der Handwerker, der trotz des angebotenen Stuhles wie verlegen an der Tuer stehen blieb, brachte zuerst in ziemlicher Verworrenheit einige Redensarten vor, mit denen er die Veranlassung seines heutigen Besuches zum voraus zu entschuldigen suchte. Endlich aber kam er doch zur Hauptsache. Ein alter Baeckermeister, reich--sehr reich und ohne Kinder, wollte Franziska zu sich nehmen; er hatte fallen lassen, dass er sie sogar in seinem Testament bedenken werde, wenn sie treulich bei ihm aushalte; fuer ihn, den Vormund, sei es Gewissenssache, ein solches Glueck fuer seine Muendel nicht von der Hand zu weisen. Richard hatte, wenigstens scheinbar, geduldig zugehoert. "Ich muss Ihre Fuersorglichkeit anerkennen, Meister", sagte er jetzt, indem er gewaltsam seine Erregung unterdrueckte; "aber Franziska wird nicht schlechter gestellt sein in meinem Hause; ich bin bereit, Ihnen die noetigen Garantien dafuer zu geben." Der Mann drehte eine Weile den Hut in seinen Haenden. "Ja", sagte er endlich, "es wird denn doch nicht anders gehen." "Und weshalb denn nicht?" Er erhielt keine Antwort; der Angeredete blickte muerrisch auf den Boden. Das Maedchen hatte waehrend dieser Verhandlung laut- und regungslos am Fenster gestanden. Als Richard jetzt den Kopf zurueckwandte, sah er ihre grossen grauen Augen weit geoeffnet; angstvoll, in flehender Hingebung, alles Straeuben von sich werfend, blickte sie ihn an. "Franziska!" murmelte er. Einen Augenblick war es totenstill im Zimmer. Dann wandte er sich wieder an den Vormund; sein Herz schlug ihm, dass er nur in Absaetzen die Worte hervorbrachte. "Sie verschweigen mir den wahren Grund, Meister", sagte er, "erklaeren Sie sich offen, wir werden schon zusammen fertig werden." Der andere erwiderte nur: "Ich habe nichts weiter zu erklaeren." Franziska, die mit vorgebeugtem Kopf und offenem Munde den beiden zugehoert hatte, war hinter des Doktors Stuhl getreten. "Soll ich den Grund sagen, Vormund?" fragte sie jetzt; und aus ihrer Stimme klang wieder jener schneidende Ton, der wie ein verborgenes Messer daraus hervorschoss. "Sagen Sie, was Sie wollen!" erwiderte der Handwerker, seine Augen trotzig auf die Seite wendend. "Nun denn, wenn Sie es selbst nicht sagen wollen--der Baeckermeister hat eine Hypothek auf Ihrem Hause; ich weiss, Sie werden jetzt von ihm gedraengt!" Richard atmete auf. "Ist dem so?" fragte er. Der Mann musste es bejahen. "Und wie hoch belaeuft sich Ihre Schuld?" Es wurde eine Summe angegeben, die fuer die Verhaeltnisse eines kleinen Handwerkers immerhin betraechtlich war. "Nun, Meister", erwiderte Richard rasch; aber bevor er seinen Satz vollenden konnte, fuehlte er wie einen Hauch Franziskas Stimme in seinem Ohr: "Nicht schenken! Bitte nicht schenken!" Und ebenso leise, aber wie in Angst, fuehlte er seinen Arm von ihr umklammert. Er besann sich; er hatte sie sofort verstanden. "Meister", begann er wieder; "ich werde ihnen das Geld leihen; Sie koennen es sofort erhalten und brauchen mir nur einen Schuldschein auszustellen. Verstehen Sie mich wohl--solange Ihre Muendel sich in meinem Hause befindet, verlange ich keine Zinsen! Sind Sie das zufrieden?" Der Mann hatte noch allerlei Bedenken, aber es war nur des schicklichen Rueckzugs halber; nach einigem Hin- und Widerreden erklaerte er sich damit einverstanden. "So gedulden Sie sich einen Augenblick! Ich werde Ihnen den erforderlichen Auftrag an meinen Anwalt mitgeben." Franziska hatte sich aufgerichtet; Richard rueckte seinen Sessel an den Schreibtisch. Man hoerte die Feder kritzeln; denn die Hand flog, die jene Worte schrieb. Rasch war der Brief versiegelt und wurde von begierigen Haenden in Empfang genommen. Gleich darauf hatte Richard den Mann zur Tuer geleitet; Franziska stand noch an derselben Stelle. Wie gebannt, ohne sich zu ruehren, blickten beide auf die Tuer, die sich eben wieder geschlossen hatte; als kaeme es darauf an, sich der schwerfaelligen Schritte zu versichern, die jetzt langsam die Treppe hinab verhallten. Einen Augenblick noch, und auch das Auf- und Zuschlagen der Haustuer und nach einer Weile das des Hoftores klang zu ihnen herauf. Da wandte er sich gegen sie. "Komm!" sagte er leise und oeffnete die Arme. Es musste laut genug gewesen sein; denn sie flog an seine Brust, und er presste sie an sich, als muesse er sie zerstoeren, um sie sicher zu besitzen. "Franzi! Ich bin krank nach dir; wo soll ich Heilung finden?" "Hier!" sagte sie und gab ihm ihre jungen roten Lippen.--Ungehoert von ihnen war die Zimmertuer zurueckgesprungen; ein schoener schwarzgelber Hundekopf draengte sich durch die Spalte, und bald schritt das maechtige Tier selbst fast unhoerbar in das Zimmer. Sie bemerkten es erst, als es den Kopf an die Huefte seines Herrn legte und mit den schoenen braunen Augen wie anklagend zu ihm aufblickte. "Bist du eifersuechtig, Leo?" sagte Richard, den Kopf des Tieres streichelnd; "armer Kamerad, gegen die sind wir beide wehrlos."--Auch auf diesen Abend war die Nacht gefolgt. Auf der Schwarzwaelder Uhr hatte eben der kleine Kunstvogel zehnmal unter Fluegelschlagen sein "Kuckuck" gerufen, und Richard holte den grossen Schluessel aus seiner Schlafkammer, um, wie jeden Abend, das Hoftor in der Mauer abzuschliessen. Als unten auf dem Flur Franziska aus der Kueche trat, haschte er im Dunkeln ihre Hand und zog sie mit sich auf den Hof hinab. Schweigend haengte sie sich an seinen Arm. So blickten sie aus dem geoeffneten Tor noch eine Weile in die Nacht hinaus. Es stuermte; die Tannen sausten, hinter dem Wald herauf jagte schwarzes Gewoelk ueber den bleichen Himmel; aus dem Dickicht scholl das Geheul des grossen Waldkauzes. Das Maedchen schauderte. "Hu, wie das wuest ist!" "Du, hast du Furcht?" sagte er. "Ich dachte, du koenntest dich nicht grauen." "Doch! jetzt!" Und sie draengte ihren Kopf an seine Brust. Er trat mit ihr zurueck und warf den schweren Riegel vor die Pforte; von oben aus den Fenstern fiel der Lampenschimmer in den umschlossenen Hof hinab. "Der naechtliche Graus bleibt draussen!" sagte er. Sie lachte auf. "Und auch der Vormund!" raunte sie ihm ins Ohr. Er nahm sie wie berauscht auf beide Arme und trug sie in das Haus.--Und auch hier drehte sich nun der Schluessel, und wer draussen gestanden haette, wuerde es gehoert haben, wie auf diesen Klang der grosse Hund sich innen vor der Haustuer niederstreckte. Bald war auch in den Fenstern oben das Licht erloschen, und das Haus lag wie ein kleiner dunkler Fleck zwischen unzaehligen andern in der grossen Einsamkeit der Waldnacht. -------------------------- Franziska war mit duerftiger Kleidung in ihre neue Stellung eingetreten, und obgleich Richard bei seiner ersten Verhandlung mit dem Vormunde in dieser Beziehung alle Fuersorge auf sich genommen hatte, so war bei dem abwehrenden Wesen des Maedchens doch noch kein Augenblick gekommen, in dem er Naeheres hierueber haette mit ihr reden moegen. Freilich war auch dies Gepraege der Armut und nicht weniger die Scham, womit er sie bemueht sah, es ihm zu verdecken, nur zu einem neuen Reiz fuer ihn geworden; ein suesses, schmerzliches Licht schien ihm bei solchen Anlaessen von ihrem jungen, sonst ein wenig herben Antlitz auszustrahlen.--Jetzt aber durfte es so nicht laenger bleiben. Drei Meilen suedlich von ihrem Waldhaeuschen lag eine grosse Handelsstadt, und eines Morgens in der Fruehe hielt draussen vor dem Tore ein leichter, wohlbespannter Wagen, um sie dorthin zu bringen. Leo war im Hinterhause eingesperrt worden. Frau Wieb, nachdem sie von beiden noch einige freundliche Worte durch ihr Hoerrohr in Empfang genommen hatte, nickte munter nach dem Wagensitz hinauf, und fort rollten sie ueber die holperigen Geleise der Heide in die Welt hinaus. Auf halbem Wege waren sie in einem Dorfkruge abgestiegen. Als die Wirtin die bestellte Milch brachte, fragte sie, auf Richard zeigend: "Der Herr Vater nimmt doch auch ein Glas?" "Freilich", wiederholte Franziska, "der Herr Vater nimmt das andre Glas." Mit uebermuetiger Schelmerei blickte sie zu ihm hinauf. Es war noch frueh am Vormittage, als sie die grosse Stadt erreichten. Zuerst wurde fuer die Oberkleider eingekauft; klare, feingebluemte Stoffe fuer die heissen, weiche, einfarbige Wollenstoffe fuer die kalten Tage. Die Anfertigung der Kleider wurde in demselben Geschaeft besorgt, und Franziska musste mit einer Schneiderin in ein anliegendes Kabinett gehen, um sich die Masse nehmen zu lassen. Zuvor aber waren von Richard, unter lebhafter Missbilligung der Verkaeufer, die einfachsten Schnitte zur Bedingung gemacht: "Fuers Haus und fuer den Wald!" Und Franzi hatte die mitleidigen Blicke, womit die jungen Herren des Ladens sie ueber den Eigensinn des "Herrn Vaters" zu troesten suchten, ohne eine Miene zu verziehen, ueber sich ergehen lassen. Sie gaben ihre Adresse ab und gingen weiter. Nachdem unterwegs Franziskas Malgeraet vervollstaendigt und bei einer Modistin zwei einfache, aber zierliche Strohhuete eingehandelt waren, traten sie in ein Weisswarengeschaeft. Bevor noch Franziska ein Wort dareinreden konnte, hatte er ein Dutzend fertiger Hemden eingekauft. "Sie sind ein Verschwender!" sagte sie; "das haette ich alles selber naehen koennen." "Du hast recht!" erwiderte er und kaufte das Zeug zu einem zweiten Dutzend. "Wenn Sie so fortfahren, Richard, so gehe ich in keinen Laden mehr." "Nur noch zum Schuhmacher!--Aber was soll das Sie? Bist du mir boese, Franzi?" "Nein, du; aber du siehst mir heut so vornehm aus." "Weiter!" sagte er. Bald darauf standen sie in dem elegantesten Schuhwarenmagazin; und die Ladendame, nachdem sie etwas herabsehend die unscheinbare Gestalt des Maedchens gemustert hatte, breitete gleichgueltig einen Haufen Schuhwerk vor ihnen aus. Ein Zug der Verachtung spielte um Franzis Lippen, als sie auf diese Mittelware blickte; denn sie besass eine Schoenheit, welche an diesem Orte als die hoechste gelten musste und deren sie sich vollstaendig bewusst war. Aber sie setzte sich gleichwohl auf den bereitstehenden Sessel und zog ihr Kleid bis an die Knoechel in die Hoehe. Das Frauenzimmer, das mit dem Schuhwerk vor ihr hingekniet war, stiess einen Ruf des Entzueckens aus. "Ah! Welch ein Aschenbroedelfuesschen! Da muss ich Kinderschuhe bringen." Wie eine Fuerstin sass Franzi auf ihrem Sessel; Richard, der diesen Sieg vorausgesehen hatte, verschlang den triumphierenden Blick, den sie zu ihm hinaufsandte. Die Ladendame aber erschien ganz wie verwandelt; ihre Kaeufer waren offenbar ploetzlich in die Aristokratie der Kundschaft hinaufgerueckt; sie holte eifrig eine Menge zierlicher Stiefelchen von allen Farben und Arten aus den Glasschraenken hervor, die aber saemtlich nach dem Gebot der Mode mit hohen Absaetzen versehen waren. "Nein, nein", sagte Richard laechelnd, "das mag fuer gewoehnliche Damenfuesse gut genug sein; Fuesse aus dem Maerchen duerfen nicht auf solchen Kloetzen gehen!" "Sie haben recht, mein Herr", sagte die Ladendame, "aber fuer die gewoehnliche Kundschaft muessen wir uns nach der Mode richten." Dann kramte sie wieder in ihren Schraenken; und nun brachte sie Stiefelchen, so leicht, so weich--die Elfen haetten darauf tanzen koennen; gleich das erste Paar glitt wie angegossen ueber Franzis schlanke Fuesschen. Noch einige Paare wurden ausgesucht, auch fuer die gemeinschaftlichen Wanderungen zu hoch hinaufreichenden ledernen Waldstiefelchen das Mass genommen; dann trieben die beiden weiter durch die wimmelnde Menschenflut der grossen Stadt. Sie hing an seinem Arm; er fuehlte mit Entzuecken jeden ihrer leichten Schritte, und unwillkuerlich ging er immer rascher, als wolle er den Voruebergehenden jeden Blick auf das bezaubernde Geheimnis dieser Fuesschen unmoeglich machen, die nur ihm und keinem andern je gehoeren sollten. Mit sinkendem Abend hielt der Wagen wieder vor dem Hause des Waldwinkels. --Einige Tage spaeter brachte die Botenfrau grosse Packen aus der Stadt; alle Bestellungen waren auf einmal eingetroffen. Franziska trug die Herrlichkeiten auf ihr Zimmer und schloss sich darin ein. Als sie nach geraumer Zeit in die Wohnstube trat, ging sie auf Richard zu, nahm ihn schweigend um den Hals und kuesste ihn; dann lief sie in die Kueche, um Frau Wieb heraufzuholen. Es war aber nur noch ein Teil der Sachen und nur das Einfachste, das jetzt, auf Bett und Kommode ausgebreitet, der gutmuetigen Alten zur Bewunderung vorgezeigt wurde. Dagegen hatte Franziska derzeit nicht vergessen, Richard an den Einkauf eines guten Kleiderstoffs und einer bunten Sonntagshaube fuer die Alte zu erinnern. Und jetzt, trotz deren Bitten, sie moege ihr eigen Weisszeug darum nicht versaeumen, gab sie keine Ruhe, bis sie zu dem neuen Staat ihr Mass genommen hatte und andern Tages schon zwischen zerschnittenen Stoffen und Papiermustern in Frau Wiebs Kaemmerchen am Schneidertische sass. So geschickt wusste sie es der alten Frau vorzustellen, dass sie noch keineswegs zu alt sei, um hier eine Rosette, dort eine Puffe oder Schleife aufgesetzt zu bekommen, dass diese immer oefter aus ihrer Kueche in die Zauberwerkstatt hinueberlief und ihrem Herrn beteuerte, die Franziska mache sie noch einmal wieder jung. Richard schien kaum dies Treiben zu beachten; nur einmal, als er dem Maedchen auf dem Flur begegnete, da sie eben mit allerlei Naehgeraet die Treppe herabgekommen war, hielt er sie an und sagte: "Aber Franzi, was stellst du denn mit unserer guten Alten auf? Sie wird ja eitel wie Bathseba auf ihre alten Tage." Franziska liess eine Weile ihre Augen in den seinen ruhen. "Lass nur", sagte sie dann, "die Alte muss auch ihre Freude haben!" Und schon war sie durch die Kammertuer verschwunden. -------------------------- Sie wohnten zwischen der Heide und dem Walde, in welche seit hundert Jahren keine Menschenhand hineingegriffen hatte; rings um sie her wartete frei und ueppig die Natur. Die Menschen waren fern, nur die Bienen kamen und summten einsam ueber die Heide. Einmal zwar war der alte Inspektor eingekehrt und hatte wegen der noetigen Feuerung mit der alten Frau Wieb einen Zwiesprach in deren Stuebchen abgehalten; dann ein paar Tage spaeter war ein maechtiges Fuder schwarzen Torfes durch den Wald dahergekommen und vor dem Hause abgeladen worden; einmal auch hatte der Kraemer aus der Stadt mit seinen neugierigen Augen sich herangedraengt, hatte gluecklich ein Geschaeft gemacht, war dann aber mit der Weisung entlassen worden, dass in Zukunft alles brieflich solle bestellt werden. Sonst war niemand dagewesen als die Botenfrau, die zweimal woechentlich Briefe und Blaetter, und was ihr sonst zu bringen aufgetragen war, unten in der Kueche niederlegte. Einen Besuch auf dem jenseit des Waldes liegenden Schlosses hatte Richard den Junkern zwar versprochen, aber er wurde immer wieder hinausgeschoben. So kam auch von dort niemand herueber. Selbst die Zeitungen, welche von draussen aus der Welt Kunde bringen sollten, wurden seit Wochen ungelesen in einem unteren Fache des Schreibtisches aufgehaeuft.--Aber an jedem Morgen fast schritten jetzt die beiden miteinander in die wuerzige Sommerluft hinaus; Franzi in ihren hohen ledernen Waldstiefelchen, die Kleider aufgeschuerzt, ueber der Schulter eine kleine Botanisiertrommel, die er fuer sie hatte anfertigen lassen. Meistens sprang auch der grosse Hund an ihrer Seite; mitunter aber, wenn der Himmel mit Duft bedeckt war, wenn still, wie heimlich traeumend, die Luft ueber der Heide ruhte und der Wald wie daemmerndes Geheimnis lockte, dann wurde wohl der Loewengelbe, wenn er neben ihnen aus der Haustuer stuermte, in schweigendem Einverstaendnis von ihnen zurueckgetrieben; hastig warfen sie dann das schwere Hoftor zurueck und achteten nicht des Winselns und Bellens, das von dem verschlossenen Hofe aus hinter ihnen herscholl. Eilig gingen sie fort, und endlich zwischen Busch und Heide erreichte es sie nicht mehr. Nichts unterbrach die ungeheure Stille um sie her als mitunter das Gleiten einer Schlange oder von fern das Brechen eines duerren Astes; im Laube versteckt sassen die Voegel, mit gefalteten Fluegeln hingen die Schmetterlinge an den Straeuchern. Am Waldesrande waren jetzt in seltener Fuelle die tiefroten Hagerosen aufgebrochen. Wenn gar so schwuel der Duft auf ihrem Wege stand, ergriffen sie sich wohl an den Haenden und erhoben schweigend die glaenzenden Augen gegeneinander. Sie atmeten die Luft der Wildnis, sie waren die einzigen Menschen, Mann und Weib, in dieser traeumerischen Welt.--Einmal, nach langer Wanderung, da die Sonne funkelte und schon senkrecht ihre Mittagsstrahlen herabsandte, waren sie unerwartet an den Rand des Waldes gekommen. Sanft ansteigend breitete ein unabsehbares Kornfeld sich vor ihnen aus; es war in der Bluetezeit des Roggens; mitunter wehten leichte Duftwolken darueber hin; bis gegen den Horizont erblickte man nichts als das leise Wogen dieser blaeulich silbernen Fluten. Da klang von fern das Gebimmel einer Glocke; weit hinten, drueben aus dem Grunde, wo wohl das Schloss gelegen sein mochte; gleich einem Rufen klang es durch die stille Mittagsluft, und wie hingezogen von den Lauten schritt Franziska in das wogenden Aehrenfeld hinein, waehrend Richard, an einen Buchenstamm gelehnt, ihr nachblickte.--Immer weiter schritt sie; es wallte und flutete um sie her; und immer ferner sah er ihr Koepfchen ueber dem unbekannten Meere schwimmen. Da ueberfiel's ihn ploetzlich, als koenne sie ihm durch irgendwelche heimliche Gewalt darin verlorengehen. Was mochte auf dem unsichtbaren Grunde liegen, den ihre kleinen Fuesse jetzt beruehrten? Vielleicht war es keine blosse Fabel, das Erntekind, von dem die alten Leute reden, das dem, der es im Korne liegen sah, die Augen brechen macht! Es lauert ja so manches, um unsere Hand, um unsern Fuss zu fangen und uns dann hinabzureissen.-"Franzi!" rief er; "Franzi!" Sie wandte den Kopf. "Die Glocke!" kam es zurueck. "Ich will nur wissen, wo die Glocke laeutet!" "Das gilt nicht uns, Franzi; das ist die Mittagsglocke auf dem Schloss!" Sie wandte sich um und kam zurueck. Er schloss sie leidenschaftlich in die Arme. "Weisst du nicht, dass das gefaehrlich ist, so tief in ein Aehrenfeld hineinzugehen?" "Gefaehrlich?" Sie sah ihn seltsam laechelnd an. Dann tauchten sie in ihren Wald zurueck.--Ein andermal, nach einem schwuelen Tage, waren sie erst spaet am Nachmittag hinausgegangen.--Als der Abend schon tief herabsank, ruhten sie am Ufer eines grossen Waldwassers, das rings von hohen Buchen eingefasst war. Zu ihren Fuessen, trotz der regungslosen Stille, schwankte das Schilf mit leisem Rauschen aneinander; drueben hinter dem jenseitigen Walde, der seine Schatten auf den Wasserspiegel warf, zuckte dann und wann ein Wetterschein empor; Irisduft wehte ueber den See, und ein lautloser Blitz erleuchtete ihn. Er hatte sich ueber sie gebeugt und liess es wie ein Spiel an sich voruebergehen, wenn ihr blasses Antlitz aus dem Dunkel auftauchte und wieder darin verschwand. "Weisst du", sagte er--"es heisst, man solle in den Augen eines Weibes noch mitunter das Schillern der Paradiesesschlange sehen. Eben, da der Blitz flammte, sah ich es in deinen Augen." "Schillerte es denn schoen?" fragte sie und hielt ihre Augen offen ihm entgegen. "Betoerend schoen." Und wieder flammte ein Blitz. "Du bist ein Tor, Richard!" "Ich glaub es selber, Franzi." Und er legte den Kopf in ihren Schoss, und zu ihr emporblickend, sah er wieder und wieder die Wetterscheine in ihren dunklen Augen zucken.--So floss die Zeit dahin. Eines Vormittags aber, als von den Fenstern des Wohnzimmers aus vor dem niederrauschenden Regen der Tannenwald nur noch wie eine graue Nebelwand erschien und die Drachenkoepfe unaufhoerlich Wasser von sich spien, stand Richard sinnend und allein an seinem Schreibtische, nur mitunter wie abwesend in den trueben Tag hinausblickend. Franzi trat herein; er hatte sie heute noch nicht gesehen; am Fruehstueckstische hatte er vergebens auf sie gewartet. Jetzt ging sie schweigend auf ihn zu, drueckte ihre Augen gegen seine Brust und hing an seinem Halse, als sei sie nur ein Teil von ihm. Er legte seinen Arm um sie, aber er kuesste sie nicht; seine Gedanken waren bei anderen Dingen. Er merkte es kaum, als sie ploetzlich wieder aus seinem Arm und aus dem Zimmer sich hinweggestohlen hatte. Als bald darauf wegen einer wirtschaftlichen Bestellung Frau Wieb ins Zimmer trat, fand sie ihren Herrn vor einer aufgezogenen Schieblade stehen, aus der er allerlei Papiere auf die Tischplatte hervorgekramt hatte. Es waren zum Teil Scheine, deren Vorlegung bei gewissen Lebensakten die buergerliche Ordnung von ihren Mitgliedern zu verlangen pflegt. "Sag mir, Wieb", rief er der Eintretenden zu, "in welcher Kirche bin ich denn getauft? Du bist ja damals doch dabeigewesen." "Wie?" fragte die Alte und hielt ihr Hoerrohr hin. "In welcher Kirche?" "Nun ja; mir fehlt der Taufschein; man muss seine Papiere doch in Ordnung haben." Nachdem er noch einmal in das Hoerrohr gerufen hatte, nannte sie ihm die Kirche. Aber er hoerte schon kaum mehr darauf. "Nein, nein!" sagte er mit leisen, aber scharfen Lauten vor sich hin, indem er wie abwehrend seine Hand ausstreckte. "Wen geht's was an! Es soll mir niemand daran ruehren!" Als er sich umwandte, stand seine alte Wirtschafterin noch im Zimmer; das Muster der Tapete, das sie mit Aufmerksamkeit betrachtete, schien sie festgehalten zu haben. Er fragte sie: "Was siehst du denn an den verblichenen Blumen, Wieb?" Die Alte nickte. "Die sitzen da nicht von ungefaehr", erwiderte sie. "Der Herr Inspektor, da er neulich wegen der Feuerung da war, hat es mir erzaehlt. Vergessen und Vergessenwerden, Herr Richard! Wer lange lebt auf Erden, Der hat wohl diese beiden Zu lernen und zu leiden! Der alte Herr vom Schlosse drueben--der Grossvater ist's gewesen von dem jetzigen--hat nur einen Sohn gehabt, den aber hat er fast uebermaessig geliebt und ihn nimmer, auch da er schon in die reiferen Jahre gekommen war, aus seiner Naehe lassen wollen; der junge Herr waere darueber fast zum Hagestolz geworden. Endlich gab's denn doch noch eine Hochzeit, und wie der Vater in ihn, so ist der Sohn in seine junge Frau vernarrt gewesen. Der alte Herr aber hat es nicht verwinden koennen, dass seines Kindes Augen jetzt immer nur nach einer Fremden gingen; er hat den beiden das Schloss gelassen und hat sich in die Einsamkeit hinausgebaut. Die Tapete hier in diesem Zimmer, wo er noch jahrelang gelebt, ist derzeit von ihm selber ausgewaehlt; es seien die Blumen des Schlafes und der Vergessenheit, so soll er oft gesagt haben.--"Haben Sie noch etwas zu befehlen, Herr Richard?" Er hatte nichts. Als die Alte hinausgegangen war, blickte auch er noch eine Weile auf die roten und violetten Mohnblumen; dann fielen seine Augen auf ein Wandgemaelde, das oberhalb der vom Flur hereinfuehrenden Tuer die Tapetenbekleidung des Zimmers unterbrach. Es war eine weite Heidelandschaft, vielleicht die an dem Waldwinkel selbst belegene, hinter welcher eben der erste rote Sonnenduft heraufstieg; in der Ferne sah man, gleich Schattenbildern, zwei jugendliche Gestalten, eine weibliche und eine maennliche, die Arm in Arm, wie schwebend, gegen den Morgenschein hinausgingen; ihnen nachblickend, auf einen Stab gelehnt, stand im Vordergrunde die gebrochene Gestalt eines alten Mannes. Als Richard jetzt von dem Bilde auf die Umrahmung desselben hinueberblickte, trat ihm dort, hab versteckt zwischen allerlei Arabesken, eine Schrift entgegen, die bei naeherem Anschauen in phantastischen Buchstaben um das ganze Bild herumlief. Dein jung Genoss in Pflichten Nach dir den Schritt taet richten; Da kam ein andrer junger Schritt, Nahm deinen jung Genossen mit; Sie wandern nach dem Gluecke, Sie schaun nicht mehr zuruecke. So lauteten die Worte. Lange stand Richard vor dem Bilde, das er frueher kaum beachtet hatte. Wuerde das Antlitz jenes einsamen Alten, wenn es sich ploetzlich zu ihm wendete, die Zuege des Erbauers dieser Raeume zeigen, oder war diese Gestalt das Alter selbst, und wuerde sie--nur eines vermessenen Worts bedurfte es vielleicht--sein eigenes Angesicht ihm zukehren?--Wehte nicht schon ein gespenstisch kalter Hauch von dem Bilde zu ihm herab?--Unwillkuerlich griff er sich in Bart und Haar und richtete sich rasch und straff empor.--Nein, nein; es hatte ihn noch nicht beruehrt. Aber wie lange noch, so musste es dennoch kommen. Und dann?-Er wandte sich langsam ab und trat an seinen Schreibtisch. Die Papiere, die dort noch umherlagen, legte er in die Schublade zurueck, aus der er sie vorhin genommen hatte.--Draussen stroemte unablaessig noch der Regen. -------------------------- In den naechsten Tagen schien wieder die Sonne; nur der Wald war noch nicht zu begehen. Aber durch die Heide hatten Richard und Franziska am Nachmittage einen weiten Ausflug gemacht; auf dem Riesenhuegel, in welchem Meister Reineke wohnte, hatten sie ihr mitgenommenes Vesperbrot verzehrt, waehrend Leo, der diesmal nicht zurueckgetrieben war, an den Eingaengen des geheimnis- vollen Baues seine vergeblichen Untersuchungen fortgesetzt hatte. Mit der Daemmerung waren sie heimgekehrt.-Als Franzi in das Wohnzimmer trat, ging sie schon wieder in den leichten Stiefeln, die sie stets im Hause zu tragen pflegte. "Du bist blass", sagte Richard; "es ist zu weit fuer dich gewesen." "Oh, nicht zu weit." "Aber du bist ermuedet, komm!" Und er drueckte sie in den grossen Polsterstuhl, der dicht am Fenster stand. Sie liess sich das gefallen und legte den Kopf zurueck an die eine Seitenlehne; die schmaechtige Gestalt verschwand fast in dem breiten Sessel. "Wie jung du bist!" sagte er. "Ich?--ja, ziemlich jung." Sie hatte ihr Fuesschen vorgestreckt, und er sah wie verzaubert darauf hinab. "Und was fuer eine Wilde du bist", sagte er, "da geht schon wieder quer ueber den Spann ein Riss!" Er hatte sich gebueckt und liess seine Finger ueber die wunde Stelle gleiten. "Wieviel Paar solcher Dinger verbrauchst du denn im Jahr, Prinzesschen?" Aber sie legte nur ihren kleinen Fuss in seine Hand, loeste ihre schwere Haarflechte, die sie drueckte, so dass sie lang in ihren Schoss hinabfiel, und streckte sich dann mit geschlossenen Augen in die weichen Polster. Im Zimmer dunkelte es allgemach; draussen in der Wiesenmulde stiegen weisse Duenste auf, und drueben im Tannenwalde war schon die Schwaerze der Nacht. --Da schlug draussen im Hofe der Hund an, und Franzi fuhr empor und riss ihre grossen grauen Augen auf. Nein, es war wieder still; aber von jenseits des Waldes kam jetzt mit dem Abendwind Musik heruebergeweht. "Lass doch", sagte Richard, "das kommt nicht zu uns." Aber sie hatte sich vollends aufgerichtet und sah neugierig in die Abenddaemmerung hinaus. "Es ist nur eine Hochzeit, Franzi, sie werden mit der Aussteuer drueben am Waldesrand herumfahren." "Eine Hochzeit! Wer heiratet denn?" "Wer? Ich glaube: des Bauervogts Tochter; ich weiss es nicht. Was kuemmert es uns; wir kennen ja die Leute nicht." "Freilich." Sie standen jetzt beide am Fenster; er hatte den Arm um sie gelegt, sie lehnte den Kopf an seine Brust. Ein paarmal, aber immer schwaecher, wehten noch die Toene zu ihnen her; dann wurde alles still, so still, dass er es hoerte, wie ihr der Atem immer schwerer ging. "Fehlt dir etwas, Franzi?" fragte er. "Nein; was sollte mir fehlen?" Er schwieg; aber sie draengte ihr Koepfchen fester an seine Brust. "Du!" sagte sie, als braechte sie es muehsam nur hervor. "Ja, Franzi?" "Du--warum heiraten wir uns nicht?" Es durchfuhr ihn wie ein elektrischer Schlag; eine Kette qualvoller Erinnerungen tauchte in ihm auf; die Welt streckte ihre grobe Hand nach seinem Gluecke aus. "Wir Franzi?" wiederholte er scheinbar ruhig. "Wozu? Was wuerde dadurch anders werden?" "Freilich!" Sie sann einen Augenblick nach. "Aber wir lieben uns ja doch!" "Ja, Franzi! Aber"--er blickte ihr tief in die Augen, und seine Stimme sank zu einem Fluestern, als wage er die Worte nicht laut werden zu lassen--"es koennte einmal ein Ende haben--ploetzlich!" Sie starrte ihn an. "Ein Ende?--Dann muesste ich wohl fort von hier!" "Muessen Franzi? Weh mir, wenn du es muesstest!" Sie schwiegen beide. "Wie alt bist du, Franzi?" begann er wieder. "Du weisst es ja, ich werde achtzehn." "Ja, ja, ich weiss es, achtzehn; ich hin ein Menschenalter dir voraus. Ueber diesen Abgrund bist du zu mir hinuebergeflogen, musst du immer zu mir hinueber.--Es koennte ein Augenblick kommen, wo dir davor schauderte." "Was sprichst du da?" sagte sie. "Ich versteh das nicht." "Versteh es nimmer, Franzi!" Aber waehrend sie atemlos zu ihm emporblickte, zuckte es ploetzlich um ihren jungen Mund; es war, als floehe etwas in ihr Innerstes zurueck. Hatten seine Worte die Schaerfe ihres Blickes geweckt, und sah sie, was ihr bisher entgangen war, einen Zug beginnenden Verfalls in seinem Antlitz?--Doch schon hatte sie sein Haupt zu sich herabgezogen und erstickte ihn fast mit ihren Kuessen. Dann riss sie sich los und ging rasch hinaus. Als sie fort war, machte er sich an seinem Schreibtische zu tun. Mit einem besonders kuenstlichen Schluessel oeffnete er ein Fach desselben, in welchem er seine Wertpapiere verwahrt hielt. Er nahm aus den verschiedenen Paeckchen einzelne hervor, schlug einen weissen Bogen darum und setzte eine Schrift darauf. Als das geschehen war, nahm er einen zweiten, dem, womit er das Fach geoeffnet hatte, voellig gleichen Schluessel, passte ihn in das Schluesselloch und legte ihn dann neben die Papiere auf die Tischplatte. Der Abend war schon so weit hereingebrochen, dass er alles fast im Dunkeln tat; ueber den Tannen drueben war schon der letzte Hauch des braunen Abenddufts verglommen. Als Franziska nach einer Weile mit der brennenden Lampe hereingetreten war und schweigend das Zimmer wieder verlassen wollte, ergriff er ihre Hand und zog sie vor den Schreibtisch. "Kennst du das, Franziska?" fragte er, indem er einige der Papiere vor ihr entfaltete. Sie blickte scharf darauf hin. "Ich kenne es wohl", erwiderte sie; "es ist so gut wie Geld." "Es sind Staatspapiere." "Ja, ich weiss; ich habe bei dem Magister einmal zu solchen ein Verzeichnis machen muessen." Er zeigte ihr ein Konvolut, worauf in frischer Schrift ihr Name stand, und nannte ihr den Betrag, der darin enthalten war. "Es ist dein Eigentum", sagte er. "Mein, das viele Geld?" Sie blickte mit scharfen Augen auf das verschlossene Paeckchen. "Versteh mich, Franzi", begann er wieder; "schon jetzt ist es dein; am allermeisten aber"--und er verschlang die junge Gestalt mit seinen Blicken--"in dem Augenblicke, wo du selber nicht mehr mein bist. Du wirst dann voellig frei sein; du sollst es jetzt schon sein." Er sah sie an, als erwartete er von ihr eine Frage, eine Bitte um Erklaerung; da sie aber schwieg, sagte er in einem Tone, der wie scherzend klingen sollte: "Da du jetzt eine Kapitalistin bist, so muss ich dir auch den noetigen Eigentumssinn einzupflanzen suchen." Und er nahm eine von den Zeitungen, die umherlagen, zog die Geliebte auf seinen Schoss und begann die Rubrik der Kurse mit ihr durchzugehen. Dann aber, als sie ihm aufmerksam zuzuhoeren schien, lachte er selbst ueber sein schulmeisterliches Bemuehen. "Es ist spasshaft! Du und Staatspapiere, Franzi! Du hast natuerlich kein Wort von alledem verstanden!" Aber sie lachte nicht mit ihm; sie war von seinem Schosse herabgeglitten und begann eingehende Fragen ueber das eben Gehoerte an ihn zu richten. Er sah sie verwundert an. "Du bist gefaehrlich klug, Franzi!" sagte er. "Magst du lieber, dass ich's nicht verstehe, wenn du mich belehrst?" "Nein, nein; wie sollte ich!"-Sie wollte gehen, aber er rief sie zurueck. "Vergiss den Schluessel nicht!" Und indem er sie an den Schreibtisch fuehrte, setzte er hinzu: "Dieses Fach enthaelt jetzt mein und auch dein Eigentum. Moege es nie getrennt werden!" Sie hatte indessen eine Schnur von ihrem Halse genommen, woran sie eine kleine golde Kapsel mit den Haaren einer fruehverstorbenen Schwester auf der Brust trug, und war eben im Begriff, daneben auch den Schluessel zu befestigen; aber ihre geschaeftigen Haende wurden zurueckgehalten. "Nein, nein, Franzi!" sagte er. "Was beginnst du!"--Er hatte das Maedchen zu sich herangezogen und kuesste sie mit Leidenschaft.--"Leg ihn fort, weit fort! zu deinen anderen Dingen. Was denkst du denn! Soll ich den Kassenschluessel an deinem Herzen finden?" Sie wurde rot. "Was du auch gleich fuer Gedanken hast!" sagte sie und steckte den Schluessel in die Tasche. Es war in der ersten Haelfte des August. Schwuel waren die Tage; truebselig in der Mauser sassen die Voegel im Walde; nur einzelne prueften schon das neue Federkleid zum weiten Abschiedsfluge; aber desto schoener waren die Naechte mit ihrer erquickenden Kuehle. Draussen im Waldwasser, wo vordem die Iris bluehten, wie auf dem Hofe in der Tiefe des offenen Brunnens spiegelten sich jetzt die schoensten Sterne; im Nordosten des naechtlichen Himmels ergoss die Milchstrasse ihre breiten, leuchtenden Stroeme. Richard hatte waehrend einiger Tage den naechsten Umkreis des Waldwinkels nicht verlassen; ein Koerperleiden aus den Jahren seiner Kerkerhaft, die nicht nur im Kopfe des Winkeladvokaten spukte, war wieder aufgetaucht und hatte wie eine laehmende Hand sich auf ihn gelegt. Jetzt sass er, die linde Nacht erwartend, auf einer Holzbank, welche draussen vor der Umfassungsmauer angebracht war; an seiner Seite lag sein loewengelber Hund. Stern um Stern brach ueber ihm aus der blauen Himmelsferne; er musste ploetzlich seines Jugendgluecks gedenken.--Wo--was war Franziska zu jener Zeit gewesen?--Ein Nichts, ein schlafender Keim! --Wie lange hatte er schon gelebt!--Die Talmulde entlang begann ein kuehler Hauch zu wehen; er haette wohl lieber nicht in der Abendluft dort sitzen sollen. Da schlug der Hund an und richtete sich auf. Gegenueber aus den Tannen liessen sich Schritte vernehmen, und bald erschien die schlanke Gestalt eines Mannes, rasch auf dem Fusssteige hinabschreitend. "Ruhig, Leo!" sagte Richard, und der Hund legte sich gehorsam wieder an seine Seite. Der Fremde war indessen naeher gekommen, und Richard erkannte einen jungen Mann in herkoemmlicher Jaegertracht, mit dunklem krausem Haar und kecken Gesichtszuegen; sehr weisse Zaehne blinkten unter seinem spitzen Zwickelbaertchen, als er jetzt, leichthin die Muetze rueckend, "guten Abend" bot. "Sie wuenschen etwas von mir?" sagte Richard, indem er sich erhob. "Von Ihnen nicht, mein Herr; ich wuensche das junge Maedchen in Ihrem Hause zu sprechen." Es war eine Zuversichtlichkeit des Tons in diesen Worten, die Richard das Blut in Wallung brachte. "Und was wuenschen Sie von ihr?" fragte er. "Wir jungen Leute haben auf Sonntag einen Tanz im Staedtchen drueben; ich bin gekommen, um sie dazu einzuladen. "Darf ich erfahren, wem sie diese Ehre danken sollte? Ihrer Sprache nach sind Sie nicht aus dieser Gegend." "Ganz recht", erwiderte in seiner unbekuemmerten Weise der andere; "ich verwalte nur waehrend der Vakanz die erledigte Foersterei der Herrschaft." "Aber Sie irren sich, Herr Foerster; die junge Dame, die in meinem Hause lebt, besucht nicht solche Taenze." "Oh, mein Herr, es ist die anstaendigste Gesellschaft!" "Ich zweifle nicht daran." Der andere schwieg einen Augenblick. "Ich moechte doch die junge Dame selber fragen!" "Es wird nicht noetig sein." Richard wandte sich nach der Pforte. Da der Foerster auf ihn zutrat, als wollte er ihn zurueckhalten, streckte der Hund seinen maechtigen Nacken und knurrte ihn drohend an. "Bemuehen Sie sich nicht weiter, Herr Foerster!" sagte Richard. Ein scharfer Blitz fuhr aus den Augen des jungen Gesellen; er biss in seinen Zwickelbart; dann rueckte er, wie zuvor, leichthin die Muetze und ging, ohne ein Wort zu sagen, den Fusssteig, den er gekommen war, zurueck. Auf halbem Wege wandte er sich noch einmal und warf einen Blick nach den Fenstern des Waldwinkels; bald darauf verschwand er drueben in dem schwarzen Schatten der Tannen. - Waehrend der Hund, wie zur Wache, noch unbeweglich an dem Rand der Wiesenmulde stand, war Richard ins Haus zurueckgegangen. Als er oben in das Wohnzimmer trat, sah er Franziska am Fenster stehen, die Stirn gegen eine der Glasscheiben gedrueckt; ein Staubtuch, das sie vorher gebraucht haben mochte, hing von ihrer Hand herab. "Franzi!" rief er. Sie kehrte sich, wie erschrocken, zu ihm. "Sahst du den jungen Menschen, Franzi?" fragte er wieder. "Es war derselbe, der uns in letzter Zeit ein paarmal im Oberwald begegnet ist." "Ja, ich bemerkte es wohl." "Hast du ihn sonst gesehen?" In Richards Stimme klang etwas, das sie frueher nie darin gehoert hatte. Sie blickte ihn forschend an. "Ich?" sagte sie. "Wo sollte ich ihn sonst gesehen haben?" "Nun--er war so guetig, dich zum Tanze zu laden." "Ach, tanzen!" Und ein Blitz von heller Jugendlust schoss durch ihre grauen Augen. Er sah sie fast erschrocken an. "Was meinst du, Franzi?" sagte er. "Ich habe ihn natuerlich abgewiesen." "Abgewiesen!" wiederholte sie tonlos, und der Glanz in ihren Augen war ploetzlich ganz erloschen. "War das nicht recht, Franzi? Soll ich ihn zurueckrufen?" Aber sie winkte nur abwehrend mit der Hand.--Ohne ihn anzusehen, doch mit jenem scharfen Klang der Stimme, der sich zum erstenmal jetzt gegen ihn wandte, fragte sie nach einer Weile: "Hast du je getanzt, Richard?" "Ich, Franzi? Warum fragst du so?--Ja, ich habe einst getanzt." "Nicht wahr, und es ist dir eine Lust gewesen?" "Ja, Franzi", sagte er zoegernd, "ich glaube wohl, dass ich es gern getan." "Und jetzt", fuhr sie in demselben Tone fort, "jetzt tanzest du nicht mehr?" "Nein, Franzi; wie sollte ich? Das ist vorbei.--Aber du nimmst mich ja foermlich ins Verhoer!" Er versuchte zu laecheln; aber als er sie anblickte, standen die grauen Augen so kalt ihm gegenueber. "Vorbei!" sagte er leise zu sich selber. "Der Schauder hat sie ergriffen; sie kommt nicht mehr herueber." Er liess es still geschehen, als sie nach einer Weile an seinem Halse hing und ihm eifrig ins Ohr fluesterte: "Vergib! Ich habe dumm gesprochen! Ich will ja gar nicht tanzen." -------------------------- Richards Unwohlsein hatte in einigen Wochen so zugenommen, dass er das Zimmer nicht verlassen konnte. Ein Arzt wurde nicht zugezogen, da ihm aus frueheren Zufaellen die Behandlung selbst gelaeufig war; sogar Frau Wiebs aus Wachs und Baumoel gekochte Salben wurden unerbittlich zurueckgewiesen. Besser wusste Franziska es zu treffen. Sie sass neben seinem Lehnstuhl, wo er, an einem kuenstlich von ihr aufgebauten Pulte, einen Aufsatz ueber hier aufgefundene seltene Doldenpflanzen begonnen hatte; sie holte ihm die betreffenden Exemplare aus dem mit ihrer Huelfe angelegten Herbarium oder aus der Bibliothek die Buecher, deren er bedurfte; sie suchte darin die einschlagenden Stellen fuer ihn auf und las sie vor. "Wenn ich noch einmal Professor werde", sagte er heiter, "welch einen Famulus besitz ich schon!" Aber sie war nicht nur sein Famulus, sie war auch das Weib, deren stille Naehe ihm wohltat, die schweigend seine Hand, wenn sie von der Arbeit ruhte, in die ihre nahm, die ihm die Polster und den Schemel rueckte und ihm mit sanfter Stimme den Trost auf baldige Genesung zusprach. Heute--es war am Nachmittag--hatte er sie fortgeschickt, um ein buntes Lippenbluemchen aufzusuchen, das nach seiner Rechnung sich jetzt erschlossen haben musste; am Waldwasser, das sie beide zu allen Tageszeiten oft besucht hatten, standen hie und da die Pflaenzchen.--Er selbst war in seinem Lehnsessel bei der begonnenen Arbeit zurueckgeblieben; auf allen Stuehlen um ihn her lagen Buecher und Blaetter, von Franziskas Hand vor ihrem Weggange sorgsam nahe gerueckt und geordnet. Eben hatte er eine ihrer Zeichnungen hervorgesucht, die nach seiner Absicht dem Aufsatze beigedruckt werden sollte; aber seine Gedanken gingen ueber das Blatt nach der Malerin selbst, die jetzt dort drueben der Wald vor ihm verbarg. Ihre hingebende Sorge an seinem Krankenstuhle wollte ihm auf einmal fast unheimlich scheinen; denn--er konnte es sich nicht verhehlen--Franzi hatte sich in der letzten Zeit ihm zu entziehen gesucht; sie war fast wieder scheu geworden wie ein Maedchen. Sollte dies demuetige Dienen ein Ersatz sein? Es war etwas Muedes in ihrem ganzen Tun und Wesen. Richard hatte den Kopf zurueckgelehnt und blickte aus dem Fenster, in dessen Naehe seine Krankenstatt aufgeschlagen war. Durch die klare Luft flog eben ein Zug von Wandervoegeln; als der verschwunden war, fielen seine Augen auf einen Vogelbeerbaum, der drueben vor den Tannen an der Wiesenmulde stand; eine Schar von Drosseln tummelte sich flatternd und kreischend zwischen den schon roten Traubenbuescheln, die in dem scharfen Strahl der Nachmittagssonne aus dem Gruen hervorleuchteten. Fern aus dem Walde hallte ein Schuss. "Bartholomaeustag!" sagte Richard bei sich selbst.--"Die Junker haben ihre Jagd eroeffnet.--Wenn nur Franzi schon zurueck waere!" Eine ungeduldige Sehnsucht nach ihr ergriff ihn. Er hatte ihr etwas versagt, woran sie nur einmal und nie wieder erinnert hatte; aber es schien ihm ploetzlich klargeworden, dies Versagen drueckte sie. Wenn er nur erst gesund waere! Sie konnten hier nicht ewig bleiben; auch er fuehlte jetzt mitunter eine Beklommenheit in dieser Stille, einen Drang, an den Dingen da draussen wieder frischen Anteil zu nehmen. Dann, wenn sie unter Menschen lebten, musste schon alles nachgeholt sein; was er ihr und sich selber einst entgegengesetzt hatte, er schalt es kranke Traeume, die den Duensten des oeden Moors entstiegen seien. Nein, nein! Sein junges Weib zur Seite, wollte er wieder ins volle Leben hinaus; ein ganzer froher Mann, befreit von allem grauen Spinngewebe der Vergangenheit. "Franzi, suesse Franzi!" rief er und streckte beide Arme nach ihr aus. Aber sie kam noch nicht. Er versuchte es, seine Arbeit wieder aufzunehmen, er blaetterte in den umherliegenden Buechern, er schrieb eine Zeile, dann legte er die Feder wieder hin.--Von den Eichbaeumen, die zu Westen der Umfassungsmauer standen, fielen die Schatten schon ueber den ganzen Hof; nur seitwaerts durch die oberen Scheiben drang noch ein Sonnenstrahl ins Zimmer. Da sah er es drueben aus den Tannen schimmern; Franziska trat aus dem Dunkel und schritt langsam auf dem Fusssteige hin; ein paarmal blieb sie wie aufatmend stehen, waehrend sie durch die Wiesenmulde heraufkam. Als sie dann zu ihm ins Zimmer getreten war, legte sie einen Strauss von blauem Enzian und Heideblueten vor ihm hin; auch ein Stengel jenes Lippenbluemchens war dabei, aber die Knospen waren noch nicht erschlossen; vergebens--so sagte sie--habe sie sich ueberall nach einer aufgebluehten Pflanze umgesehen; aber morgen oder uebermorgen werde sie gewiss schon eine bringen koennen. Ihre Augen glaenzten, ihre Wangen waren heiss. Er ergriff ihre Hand und wollte sie an sich ziehen. "Du hast wohl sehr weit umher gesucht?" sagte er. Aber er fuehlte ein leises Widerstreben. "Oh, ziemlich weit! Es war ein wenig feucht, ich muss die Schuhe wechseln." "So tu das erst, komm aber bald zurueck! Ich habe fast um dich gesorgt." "Um mich? Das war nicht noetig." "Ja, Franzi, wenn man krank im Lehnstuhl sitzt!--Ich hoerte schiessen, drueben vom Waldwasser her. Hast du es nicht gehoert?" "Ich? Nein, ich hoerte nichts." Sie hatte im selben Augenblick den Kopf gewandt. "Ich komme gleich zurueck", sagte sie, ohne umzusehen, und ging rasch zur Tuer hinaus. Als sie gegangen war, kam der Hund herein, der es bald gelernt hatte, mit seiner breiten Pfote die Zimmertuer zu oeffnen. Er legte den Kopf auf seines Herrn Schoss und blickte ihn wie fragend mit den braunen Augen an. Richard liess seine Hand liebkosend ueber den Ruecken des schoenen Tieres gleiten. "Sei ruhig, Leo!" sagte er, "wir beide bleiben doch beisammen!"--Er teilte mit den Fingern das seidenweiche Haar unter dem Behang des Kopfes. "Lass sehen! Hast du denn die Narbe noch?--Das war ein wilder Strauss mit dem lombardischen Strauchdieb damals! So tolle Wege gehen wir nun nicht mehr! --Aber schoen wird doch auch die neue Fahrt mit deiner jungen Herrin, wenn sie mit ihren lichten Falkenaugen in die vorueberfliegende Landschaft blickt, und du, mein Hund, voran in weiten Spruengen, wie einstens, da wir noch allein die Welt durchstreiften! Denn hinaus wollen wir wieder, weit hinaus, und du, mein Tier--gewiss, wir bleiben beieinander!" Er hatte sich hinabgebeugt, aber Leo schloss wie beruhigt seine Augen, und nur die Fahne des maechtigen Schweifes bekundete in sanften Bewegungen die Zufriedenheit seines Innern. So sassen sie still beisammen, wie sie es sonst so oft getan, tags an der offenen Landstrasse wie abends im behaglichen Quartier. Der reichbegabte Mann und die scheinbar so weit von ihm getrennte Kreatur--in diesem Augenblick legte sich das Gefuehl der gegenseitigen Treue wie erquickender Tau auf beider Haupt.--Richard war nicht dazu gekommen, Franzi seinen so freudig gefassten Entschluss mitzuteilen; auch als sie bald darauf wieder eintrat, und selbst in den folgenden Tagen, gelangte er nicht dazu.--Franzi ging wiederholt in den Wald hinaus. Sie brachte ihm die erschlossene Blume, um deren willen sie zuerst hinausgegangen war; sie brachte auch andere, die zu seiner Arbeit in Beziehung standen; jedesmal hatte sie etwas Neues vorzulegen. In der Vase, welche auf dem Schreibtische stand, ordnete sie fast taeglich einen neuen Strauss von Graesern und wilden Blumen, zwischen denen jetzt auch schon Zweige mit roten und schwarzen Beeren glaenzten. Wenn sie ihn verlassen hatte, fuehlte er eine Unruhe, die er sich selber zu gestehen schaemte. Denn was konnte ihr geschehen hier im Walde!--Einen Schuss hatte er nicht wieder gehoert; die Jagd musste, wenn sie ueberhaupt betrieben wurde, nach einem entfernteren Teile des Reviers verlegt sein. Aber allmaehlich und immer rascher fuehlte er sich genesen; bald ging er im Hause, bald mit Leo und Franzi auch schon draussen in der naechsten Umgebung desselben umher; mit vollen Zuegen atmete er die klare, wuerzige Herbstluft. Und jetzt erfasste ihn aufs neue eine Ungeduld, bevor noch hier die Blaetter fielen, seine Plaene zu verwirklichen. Mit raschem Entschluss setzte er sich an den Schreibtisch und teilte seinem Freunde, dem Buergermeister, seine Absicht nebst einer dessen Persoenlichkeit entsprechenden Begruendung mit, zugleich kuendigte er seinen Besuch auf die naechsten Tage an. Neben ihm unter dem Briefbeschwerer lag die juengst verfasste Arbeit, in sauberer Reinschrift von Franziskas Hand und fertig zur Versendung an die Redaktion einer botanischen Zeitschrift. Alles sollte noch heute die Botenfrau zur Post bringen. Als er die Abhandlung hervorzog, um sie einzusiegeln, kreuzte beim fluechtigen Einblick ein Gedanke seinen Kopf, der ihn antrieb, noch einmal ein in seiner Bibliothek befindliches Fachwerk nachzuschlagen. Gleich nachdem er das Zimmer verlassen hatte, kam Franziska durch die Aussentuer herein. Als sie den offenen, frisch geschriebenen Brief auf dem Tische liegen sah, trat sie auf leisen Sohlen naeher; vorsichtig reckte sie den Kopf, und ihre Augen flogen darueber hin, als wollten sie die Schrift einsaugen. Ein paar Sekunden stand sie noch, ihre Finger fuhren an die Zaehne, ein heftiges Erschrecken lag auf ihrem Antlitz. Dann, als nebenan in der Bibliothek sich Schritte ruehrten, entfloh sie aus dem Zimmer, aus dem Hause und draussen ueber den Hof; an die Mauer gedrueckt, lief sie in die Heide hinaus, die an der Rueckseite des Gebaeudes lag. Eine Weile sass sie hier zwischen dem Eichengebuesch auf dem Boden, die Haende um die Knie gefaltet; ihre Blicke flogen von den Wetterfahnen des Hauses, welche goldschimmernd in der Morgensonne aus dem Laub hervorragten, nach dem Wald hinueber und vom Walde zurueck zu dem alten Gemaeuer, das dort so friedlich in dem Gruen der Baeume stand. Ploetzlich sprang sie auf; die ganze schmaechtige Gestalt bebte, aber ihre Augen blickten entschlossen nach dem Wald hinueber. Durch das Gebuesch der Heide lief sie seitwaerts an der Wiesenmulde entlang. Als sie beim Zurueckblicken das Haus nicht mehr gewahren konnte, ging sie durch die wuchernden Kraeuter in dieselbe hinab und verschwand dann jenseits zwischen den Staemmen der Waldbaeume. --Als sie nach reichlich einer Stunde wieder ins Haus trat, schien jede Spur einer Aufregung aus ihrem Angesicht verschwunden. "Bist du endlich da, Franzi?" sagte Richard, der ihr auf dem Flur entgegenkam, "ich suche dich seit einer Stunde." Franziska drueckte ihm leicht die Hand. "Verzeih, dass ich dir's nicht sagte. Mir war der Kopf benommen, ich musste einen Gang ins Freie machen." Er legte ihren Arm in seinen. "Komm!" sagte er und zog sie mit sich die Treppe hinauf nach dem Wohnzimmer. Hier fasste er sie an beiden Haenden und blickte sie lang und liebevoll mit seinen ernsten Augen an. Sie senkte den Kopf ein wenig und fragte: "Was hast du, Richard? Du bist so feierlich." "Franzi", sagte er, "gedenkst du wohl noch der Hochzeitsmusik, die abends vom Waldesrand zu uns herueberwehte?" Sie nickte, ohne aufzusehen. "Und jener Worte, die ich damals zu dir sprach?--Ich war ein Tor, Franzi; die ungewohnte Einsamkeit hatte mir den Mut gelaehmt. Doch jetzt bin ich ein eigensuechtiger Mensch; ich kann nicht anders, ich muss dich halten, unaufloeslich fest, auch wenn du gehen wolltest! Ich ertrag's nicht laenger, dass du frei bist.--Das ist Selbsterhaltung, Franzi, ich kann nicht leben ohne dich." Immer inniger ruhten seine Augen auf ihr, immer mehr hatte er sie an sich gezogen. Bebend hing sie in seinen Armen. "Wann", sagte sie, "wann denkst du, dass es sein sollte?" "Macht's dich beklommen, Franzi?"--Er legte seine Hand auf ihre dicke seidene Flechte und drueckte ihren Kopf zurueck, dass er ihr Antlitz sehen konnte. "Ich hab dich ueberrascht, besinne dich!--Wir brauchen keine Hochzeitsmusik; in dieser Stille, wo du mein geworden bist, mag auch die Aussenwelt ihr Recht bekommen. Die alte gute Wieb, ihr Freund, der Inspektor; wir brauchen keine andern Zeugen! Und uebermorgen reise ich zu deinem Vormund, zu unserem Freund, dem Buergermeister; die paar Tage noch bist du Strohwitwe; dann, Franzi, dann verlassen wir uns nicht mehr." Er schwieg. Sie oeffnete die Lippen; aber es war, als wenn die Worte nicht hinueber wollten. "Und wann", sagte sie endlich, "wirst du wiederkommen?" "Am Sonnabend reise ich; am Dienstag bin ich wieder da. Dann hoff ich alles mitzubringen: die noetigen Scheine, die Lizenz, das Hochzeitskleid. --Ja, Franzi, die Tage deiner Freiheit sind gezaehlt! Du wirst mir doch indes nicht etwa fortgeflogen sein?" Mit dem gluecklichsten Laecheln blickte er sie an. "Und nun geh, mein geliebtes Weib! Ich hab noch mancherlei fuer uns zu ordnen." -------------------------- Die letzte Nacht vor der Abreise war gekommen. --Die drei Bewohner des Waldwinkels befanden sich in ihren Schlafgemaechern; Leo, der treue Waechter, lag, wie stets um diese Zeit, unten im Flur quer vor der Haustuer hingestreckt. Im Hause war alles still, wenn nicht mitunter ein Husten der alten Frau Wieb aus deren Gardinenbett hervorbebte oder droben im Wohnzimmer der Uhrenkuckuck von Stunde zu Stunde die Stationen der Nacht in die schweigenden Raeume hinausrief.--Draussen aber wuehlte der Wind in den Baeumen; die Wetterfahnen kreischten auf dem Dache, und allerlei Stimmen schwebten, wenn der Sturm zu neuem Zuge den Atem anhielt, aus dem Walde herueber.--Horch! Klang da nicht ein Fenster? Das einzige an der Westseite des Hauses, wo die Eichenzweige die Mauer fast beruehren? Nein, nur in den Lueften brauste es staerker; es schien sich weiter nichts zu ruehren; die alte Frau Wieb hustete; oben rief der Kuckuck: eins!--Die Nacht rueckte weiter; nichts, was nicht sonst auch da war, liess sich hoeren. Die wenigen Sterne, die durch die vorueberjagenden Wolken blinkten, erblichen nach und nach.--In der ersten Daemmerung stand Franziska vor Richards Bette. Er schlief noch; sie kniete nieder und kuesste seine Hand, die ueber den Rand des Bettes herabhing; und als er die Augen aufschlug, sagte sie: "Du musst aufstehen, Richard; der Wagen wird bald da sein!" "Franzi!" rief er, die Augen zu ihr aufschlagend, und nach einer Weile, da der Nebel des Schlafs von seiner Stirn gewichen war, setzte er hinzu: "Hast du den Eulenschrei gehoert, heut nacht? Auf der Uhr drinnen rief es just zu eins." Sie zuckte leise in den Schultern. "Das hoeren wir ja jede Nacht", sagte sie leise. "Nein, nein, Franzi; es war nicht der Waldkauz, den wir hierherum haben; es klang ganz anders, seltsam! Ich zweifelte zuerst, ob's auch nur einer seiner Vettern sei; drunten vorn Flur herauf hoerte ich, wie Leo sich aufrichtete und einige Male hin und wider ging." "Ich hab es nicht bemerkt", sagte sie leise. "Dann hast du fest geschlafen, Franzi; denn das Tier muss in einem der naechsten Baeume hier gesessen haben." Sie sassen noch beim Fruehstueck miteinander, aber Franzi brachte kaum ein Kruemchen ueber ihre Lippen. Dann stieg er in den Wagen. "Vergiss es nicht; drei Tage!" rief er ihr noch zurueck, und fort rollte das Gefaehrt ueber die Heide; mit lautem Bellen sprang der Hund voraus. Lange stand sie und blickte mit unbeweglichen Augen hinterher, bis nur noch die dunkle Linie des Steppenzuges sich am Horizonte abhob. -------------------------- Am Nachmittag trat Richard zu seinem Freunde, dem Buergermeister, in das Zimmer. "Nun, Waldmensch!" rief dieser, ihm drohend die kleine runde Hand entgegenschuettelnd, "was treibst du denn fuer Streiche?" "Du hast also meinen Brief erhalten?" "Freilich! Wie du einen alterieren kannst! Es sind natuerlich lauter Scherze!" "Ich bin in vollem Ernst zu dir gekommen." "Hoechst merkwuerdig!" sagte der Buergermeister, "romantisch, ganz romantisch! --Ich wette, du weisst noch nicht einmal, wer Vater und Mutter zu dem Maedchen gewesen sind." "Was geht das mich an!" "Nun, nun; du brauchst aber doch einen Taufschein--" "Ich brauche noch mehr, Fritz! Vielleicht gar deine obervormundschaftliche Huelfe, wenn der wackere Schuster seine Muendel etwa wieder bei einem reichen Baecker sollte in Versorgung geben wollen." "Meine Huelfe, Richard? Nein, nein; wo denkst du hin? Das ginge denn doch gegen mein Gewissen." Richard laechelte. "Aber du bist ja nicht mein Obervormund; ist dir der Mann nicht gut genug fuer deine Muendel?" "Bei Gott, du hast recht, Richard! Mir war in diesem Augenblick, als seist du noch mein Leibfuchs. Da werd ich freilich nichts dagegen machen koennen." Der Buergermeister hatte seine goldene Brille von der Nase genommen, putzte die Glaeser mit seinem gelbseidenen Schnupftuche und sah dabei den Freund kopfschuettelnd aus seinen kleinen Augen an. "Hm, solch ein Schwaermer!" sagte er, "es ist doch seltsam, dass euere Sorte immer--" Aber Richard ergriff den kleinen guten Mann bei beiden Haenden. "Du disputierst sie mir nicht ab", sagte er innig. "Lass gut sein, Fritz; sprich lieber, wie steht es mit dem Herrn Magister?" "Er sitzt!" erwiderte der Buergermeister mit einem hoechst froehlichen Erwachen seiner Stimme. "Aber sein Prozess?" "Still; weck ihn nicht! Der schlaeft." "Und Franziska?" "Wird nicht mehr beunruhigt werden. Die Akten sind eingesandt; das Urteil kommt schon zu seiner Zeit." "Nun, Fritz, so hilf mir, und lass uns alles rasch besorgen!"-Und alles wurde besorgt; schon am naechsten Vormittage hatte Richard die Lizenz und alle noetigen Scheine in seinen Haenden. Es war sein Plan gewesen, die Reise noch auf jene Grossstadt auszudehnen; aber wieder befiel ihn eine fast angstvolle Sehnsucht und trieb ihn nach dem Wald zurueck; die beabsichtigten Einkaeufe liessen sich ja auch am besten in Gemeinschaft mit Franziska machen. So befahl er denn die Heimkehr. "Frisch zu, Kutscher", sagte er, "es gibt ein doppeltes Trinkgeld." Der Kutscher brauchte seine Peitsche; noch am Nachmittag erreichten sie das Dorf; aber auf dem holperigen Steinpflaster lief ein Rad von der Achse, und zur Ausbesserung bedurfte es einer halbstuendigen Arbeit in der Dorfschmiede. Richard, von Leo begleitet, war nach dem Krug hinuebergegangen. Bei seinem Eintritt in die Aussendiele stiess der Hund ein dumpfes Knurren aus, und in demselben Augenblick ging der junge Foerster, der eben aus der Gaststube trat, ohne Gruss an ihm vorueber aus der Haustuer; nur ein fluechtiger Blick der blanken Augen hatte ihn gestreift. Richard blieb unwillkuerlich stehen. Als er durch die offene Haustuer wahrnahm, dass der andere den Hof verlassen hatte, ging auch er wieder hinaus und sah ihn eilig auf dem nach Norden fahrenden Landwege dahinschreiten. Der Mensch war ihm verhasst; er wusste selber kaum, weshalb er hier am Wege stand, ihm nachzublicken. Er wandte sich rasch wieder nach dem Hause. Dort hoerte er von der Gaststube aus lebhaftes und vielstimmiges Gespraech, wovon er bei seiner ersten Einkehr nichts bemerkt hatte. Als er mit seinem Hunde eintrat, fand er viele Gaeste an den Tischen sitzen, denn es war Sonntagnachmittag. Aber das Gespraech verstummte ploetzlich; statt dessen kam der Wirt ihm entgegen und erkundigte sich geflissentlich nach seiner Reiseungelegenheit. Von einem der Tische her hoerte er noch den Namen des Foersters, den er zufaellig erfahren hatte; doch der Sprecher erhielt von seinem Nachbar einen Stoss mit dem Ellenbogen, und allmaehlich kam wieder ein lautes Gespraech in Gang, wie es die Bauern ueber Ernte und Fruchtpreise um solche Jahreszeit zu fuehren pflegen. Endlich war die Achse hergestellt, und der Wagen rollte fort. Richard sass in sich versunken; eine unklare, unbehagliche Stimmung hatte ihn ergriffen; er konnte sich nicht freuen auf die Heimkehr, formlose gespenstische Gebilde aus irgendeinem fernen grauen Nebel drangen auf ihn ein. Wenn er nur erst da waere, nur erst Franziskas Antlitz wiedersaehe! Und weiter ging es, und immer naeher kam er zu den Waeldern. Schon rumpelte der Wagen zwischen dem Eichenbusch ueber den harten Heideboden, und endlich stieg das Dach des Hauses vor ihm auf, und er sah die Wetterfahnen in der Abendsonne schimmern. Aber dort, was seitwaerts aus dem Schatten des Waldes trat, das war sie ja selbst; ihr helles Kleid, ihr Strohhuetchen, ganz deutlich hatte er es erkannt. Sie schien den Wagen nicht bemerkt zu haben, denn sie schlug die Richtung nach dem Hause ein; aber er beugte sich vor und rief ueber die Heide: "Franzi! Franzi!"--Da blieb sie stehen, und als er noch einmal gerufen hatte, wandte sie sich und kam langsam naeher. Endlich konnte er ihr Antlitz sehen; die Augen standen so gross und dunkel ueber den blassen Wangen; er meinte sie noch niemals so gesehen zu haben. Bevor der Wagen hielt, war er schon hinabgesprungen und schloss sie in die Arme. "Gott sei gedankt!" rief er und atmete auf, als fiele eine Bergeslast von seiner Brust, "mir war, als koennt ich dich verloren haben!" Sie sagte nur: "Was du fuer Traeume hast!" Aber waehrend ihr Kopf an seinem Herzen lag, waren ihre Augen auf den an ihrer Seite stehenden Hund gefallen. Der hatte die Nase nach dem Walde ausgestreckt, der Richtung nach, in welcher Franzi ihn soeben verlassen hatte, und schnoberte immer heftiger in der Luft umher. Fast mechanisch griff ihre kleine Hand in das metallene Halsband des Tieres. "Lass uns heim, Richard", sagte sie hastig, "und halte den Hund, damit er nicht wie neulich nach den Rehen jagt." Er sah nicht hin, er hatte nur Augen fuer die junge Gestalt, die er in seinen Armen hielt, die er wie ein Kind jetzt in den Wagen hob. Dann pfiff er seinem Hunde, und bald hatten sie die kurze Strecke bis zum Hause zurueckgelegt. Er fand dort alles in gewohnter Ordnung; die alte Wieb trat im saubersten Sonntagsanzug ihm entgegen, voll Freude ueber seine unerwartete schnelle Heimkehr. Aber er sagte ihr, dass der Wagen schon auf morgen wieder bestellt sei, dass er in der grossen Stadt zu tun habe und dass Franziska mit ihm reisen werde. Und dieser fluesterte er zu: "Du bist es doch zufrieden, Franzi? Wir gehen wieder zu der entzueckten Ladendame; kleine seidene Stiefelchen soll sie dir anmessen! Du sollst dir alles selber aussuchen--doch nein! Du bist zu anspruchslos, du wuerdest doch nur Kleider fuer dich kaufen.--Ich aber--in weissen Duft will ich dich huellen, so leicht wie ein Nichts, so zart, dass auch eine Wolke davon das Leuchten einer Rose nicht verbergen koennte." Er sah es nicht, wie sie die weissen Zaehnchen aufeinanderbiss und wie ihre Lippen zitterten. "Nun Franzi?" fuhr er fort, "was meinst du, bist du es zufrieden?" Sie zog schweigend seine Hand an ihre Lippen; dann sagte sie mit jenem scharfen Klang der Stimme: "Ich meine, dass du wieder einmal verschwenden willst und dass du dich taeuschest ueber mich arme Dirne, die ich bin." "Und ich meine, dass jetzt du die Toerin bist." -------------------------- Der Abend kam. Richard hatte wie gewoehnlich das aeussere Bohlentor und die Haustuer abgeschlossen; vor der letzteren auf dem Hausflur lag der Hund, der grosse Schluessel zu dem ersteren hing an dem Tuerpfosten in seinem Schlafgemache. Dann legte er sanft den Arm um Franzis Leib, die muessig am Fenster des Wohnzimmers stand und nach dem dunkeln Wald hinueberschaute, und fuehrte sie durch die Bibliothek bis an die Schwelle ihrer Kammer. Sie war ihm wieder wie eine unberuehrte Braut, er ueberschritt die Schwelle nicht. "Schlafe suess, meine Franzi!" sagte er. "Mir ist auf einmal wieder, als stuende das Glueck mir noch in ungewisser Ferne." Sie hatte schon die Tuer geoeffnet; da riss er sie noch einmal an sich. "Gute Nacht, gute Nacht, Franzi!" Dann war sie fort; nur ihre kleinen, leichten Schritte hoerte er noch hinter der geschlossenen Tuer. Langsam ging er durch das Wohnzimmer. Im Voruebergehen hob er die brennende Kerze, welche er dort vom Tisch genommen hatte, gegen das alte Tuerbild und warf einen fluechtigen Blick darauf; dann trat er in sein Schlafgemach. Und bald, nach den Ermuedungen dieser letzten Tage, lag er in festen Schlaf gesunken. Weder das Rauschen der Waelder draussen in der dunkeln Herbstnacht noch der Zeitruf des kleinen Kunstvogels aus der nebenan liegenden Stube drang in die Tiefe seines Schlummers. Schon war die hoechste Stufe der Nacht erklommen; zwoelfmal hatte es drueben von der Uhr gerufen; er schlief traumlos weiter, und weiter rueckte die Nacht. Eins rief es von der Uhr;--dann zwei;--dann drei! Da kamen die Traeume, und was am Tage nur wie beaengstigender Nebel vor seinem Blick geschwommen, jetzt wurde es zu farbigen Gestalten, von grellem oder fahlem Licht beleuchtet, das keiner Zeit des Tages angehoerte.--Wie bleich ihm Franzi in den Armen hing! Und seltsam, immer wollten ihre Augen ihn nicht ansehen! Aber dort hinter den Baeumen stand der Jaeger.--Stoehnend warf er sich umher auf seinem Lager; aus seinem Munde brachen heftige, zusammenhanglose Laute. Ploetzlich fuhr er empor und sass aufgerichtet, in den Kissen, der Nachhall irgendeines Schalles lag in seinen Ohren; und jetzt schon wusste er es, vom Hofe drunten musste es gekommen sein. Im selben Augenblicke stand er auch am Fenster, kaum die erste graue Daemmerung war angebrochen; aber dennoch sah er es, wie eben das schwere Hoftor zuschlug. Wie noch im Traume hatte er eine seiner beiden Pistolen von der Wand gerissen; eine Fensterscheibe klirrte, und klatschend fuhr die Kugel drunten in das Bohlentor. Dann blieb alles still. Er riss die andere Pistole von der Wand, und ohne Kleidung, im nackten Hemde, stuerzte er aus dem Zimmer; im Hinausgehen griff er nach dem Haken an der Tuer, aber der Schluessel fehlte. "Leo, Leo!" rief er auf der Treppe draussen. "Mein Hund, wo bist du?"--Nichts regte sich. Noch einmal rief er und stieg dann in den noch dunkeln Hausflur hinab. Da wurden seine Fuesse durch etwas aufgehalten, was nicht weichen wollte; als er sich bueckte, fuhr seine Hand ueber langes seidenweiches Haar.--Er stiess einen lauten Schrei aus. Noch einmal bueckte er sich; dann rannte er--er wusste selbst nicht weshalb--in die Kammer seiner alten Dienerin; aber die taube alte Frau lag ruhig atmend in ihrem Bette; er nahm das auf dem Tische stehende Licht, zuendete es an und trat wieder auf den Flur hinaus. Da lag sein Hund, die Beine steif gestreckt, die braunen Augensterne gross und offen. Er warf sich nieder und leuchtete mit der Kerze dicht hinan; ein blaeulicher Flor schien den Glanz der Augen zu bedecken; kalt und wie in stummer Klage starrten sie ihn an.--Auf einmal war ihm, als wuerden die Mauern durchsichtig, als saehe er zwei jugendliche Gestalten ueber die Heide fliehen und im brennenden Morgenschein verschwinden. Er sprang auf und stand im naechsten Augenblicke in Franziskas Kammer.--Sie war leer, das Bett nur leicht beruehrt; man sah, sie hatte nur zu fluechtiger Rast sich auf die Decke hingestreckt; das Kissen zeigte noch den Eindruck, wo sie ihren Arm gestuetzt hatte. Er haette es nicht lassen koennen, er legte seine Hand hinein, als liebkoste er noch diese letzte Spur ihres Lebens. Da klirrte durch eine zufaellige Beruehrung die Waffe in seiner andern Hand, und jaeh schoss ein neuer Gedankenstrom durch seinen Kopf. Schon war er draussen auf der Treppe; aber er kam nicht weiter.--Was wollte er denn noch?--Schon einmal waren seine Haende rot geworden. Langsam stieg er die Treppe hinauf nach seiner Schlafkammer; er haengte die Schusswaffe an ihren Platz; dann kleidete er sich voellig an. Als er fertig war, trat er in das Wohnzimmer, zog die Vorhaenge der Fenster auf und oeffnete dann mit seinem Schluessel das Fach des Schreibtisches, worin die Wertpapiere ihren Platz hatten. Er wusste vorher schon, was er finden wuerde. Was ihm gehoerte, lag unberuehrt; das Paeckchen mit Franziskas Namen war verschwunden.--Eine Weile suchte er noch nach einem Zettelchen von ihrer Hand, einem Wort des Abschieds oder was es immer sei; er raeumte das ganze Fach aus, aber es fand sich nichts. Durch die Fenster brach der erste Morgenschein und liess das alte Tuerbild aus der Daemmerung hervortreten. Als er zufaellig den Blick dahin warf, ueberkam ihn ein wunderlicher Sinnentrug; der einsame Alte dort am Wege hatte ja den Kopf gewandt und sah ihn an. Die Sonne stieg hoeher, an den Tapeten leuchteten die Blumen der Vergessenheit. Richard hatte die Augen noch immer nach dem Bilde. Es war sein eigenes Angesicht, in das er blickte. -------------------------- Der Oktober war ins Land gekommen. Im Kruge zu Foehrenschwarzeck sassen eines Nachmittags der Wirt und der kleine Kraemer aus der Stadt sich gegenueber. Der ganze Tisch war voll von Kreidezahlen; sie hatten wieder einmal Quartalstag gehalten, das Fazit war gezogen und genehmigt worden; die noch uebrige Zeit gehoerte vergnueglicheren Gespraechen, und sie waren auch schon in vollem Gange. Kasper-Ohm begann soeben von dem Boden der gemeinen Wirklichkeit emporzusteigen. "Ihr moegt mir's glauben", sagte er geheimnisvoll, "es ist sein eigen Blut gewesen; freilich hat er's nicht Wort haben wollen, denn sie ist auf den Namen Fedders getauft und bei einem Magister aufgezogen worden; sogar einen eigenen Vormund hat er ihr von Gerichts wegen setzen lassen!" "Kasper-Ohm!" sagte der kleine Kraemer, "Ihr seid wieder einmal bei Eurem Advokaten in der Stadt gewesen!" "Nun, nun, Pfeffers, glaubt's oder glaubt's nicht! Der Vormund ist selbst bei mir eingekehrt gewesen; da, wo Ihr jetzt sitzt, hat er gesessen und seinen Schnaps getrunken; sie haben's drueben im Narrenkasten eben mitsammen fertig gehabt, dass das arme Kind einen reichen Baeckermeister freien sollte, so einen alten wurmstichigen Mehlkneter; denn sie ist was wild gewesen, und die alte Waisenwieb hat nicht recht mehr mit ihr hausen koennen.--Nun, Pfeffers, was soll man dazu sagen, dass sie lieber mit dem schwarzen Krauskopf--" Er nickte dem Kraemer zu und blies bedeutsam durch seine ausgespreizten Finger. "Das ist eine gewaltige Geschichte, die Ihr da erzaehlt, Kasper-Ohm", meinte der andre, "und stimmt nicht ganz mit dem Kalender; denn der Doktor ist bei der Geburt des Maedels ja schon drei Jahr ausser Landes gewesen! Aber lasst uns einmal anstossen, und freut Euch, dass der Krauskopf Eure Ann-Margret nicht auch noch mitgenommen hat; denn er sah mir just nicht aus, als wenn er lange mit einer einzigen zufrieden waere." Kasper-Ohm lachte und blickte durch die Fensterscheiben. "Da kommt auch der Inspektor!" sagte er. Der Genannte war eben in Begleitung seines Pudels unter der alten Eiche durchgegangen, in deren Wipfel jetzt das leere Nest zwischen den schon gelichteten Zweigen sichtbar war. Der Wirt empfing ihn an der Stubentuer. "Nun, Herr Inspektor", rief er munter, "alles wieder auf dem alten Stand?" "Ausgekehrt und abgeschlossen!" erwiderte der Alte, indem er den grossen Schluessel zum Aussentor des Waldwinkels auf den Tisch und sich selbst auf einen Stuhl warf. "Gestern ging das letzte Fuder nach der Stadt, um dort unterm Hammer weggeschlagen zu werden; all das schoene Ingut! Die alte Lewerenz bekommt das ganze Geld dafuer." "Und der Herr Doktor?" fragte der Wirt. "Wo ist denn der geblieben?" "Weiss nicht", sagte der Alte, "kuemmert mich auch nicht;--fort--in die weite Welt." Der kleine Pfeffers nahm den Schluessel von der Tischplatte und hielt ihn ueber den Koepfen der beiden andern: "Wer bietet auf den "Narrenkasten"? --Nummer eins: der alte Herr; Nummer zwei: der Herr Botanikus;--wer bietet zum dritten auf den "Narrenkasten"?" "Lasst die Possen, Pfeffers!" sagte der Alte und nahm ihm den Schluessel aus der Hand. "Mir tut's nur leid um den Loewengelben; ich sag Euch, es war ein Kapitalvieh; er ging noch ueber meinen Phylax." Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes Waldwinkel, von Theodor Storm. End of the Project Gutenberg EBook of Waldwinkel, by Theodor Storm *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK WALDWINKEL *** This file should be named 7wwkl10.txt or 7wwkl10.zip Corrected EDITIONS of our eBooks get a new NUMBER, 7wwkl11.txt VERSIONS based on separate sources get new LETTER, 7wwkl10a.txt Produced by Mike Pullen and Delphine Lettau Project Gutenberg eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US unless a copyright notice is included. Thus, we usually do not keep eBooks in compliance with any particular paper edition. We are now trying to release all our eBooks one year in advance of the official release dates, leaving time for better editing. Please be encouraged to tell us about any error or corrections, even years after the official publication date. Please note neither this listing nor its contents are final til midnight of the last day of the month of any such announcement. 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